: Der heilige Misanthrop
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Die Tübinger Provinz feiert Paul Cézanne ■ Von Christian Gampert
Schwere Limousinen verstopfen die Straßen um die Tübinger Kunsthalle: Aus unerfindlichen Gründen interessieren sich Industriellengattinnen und Ärzteversammlungen ab heute für Cézanne, betuchte Rentner reisen von weit her und scharenweise an, Schulklassen werden zwangsweise vorgeführt, der akademische Mittelbau kommt sowieso und der Rest wegen der Nachbarn, die fragen, ob man etwa Cézanne noch nicht... Die Ausstellung ist ein treffliches Beispiel dafür, wie ein Medienereignis gemacht wird. Götz Adriani, der brillantringtragende Museumsvorsteher, ist ein etwas fischiger kalter Herr, egoman ehrgeizig. Er hat eine schöne, gut strukturierte Ausstellung gehängt, dann hat er im Interview mit der FAZ ganz Tübingen als spießig und provinziell beschimpft und davon ausdrücklich nur sich selbst ausgenommen (obwohl er schon beim Einatmen von Berliner Luft vermutlich tot umfallen würde), daraufhin hat der Spiegel entdeckt, daß Cézanne ein „Gott der Malerei“ war – das Ergebnis ist: Vor lauter Publikum kann man beinahe alle Bilder nicht mehr sehen. Die Tübinger Kunsthalle, für Veranstaltungen dieser Dimension gänzlich ungeeignet, platzt aus allen Nähten.
Cézanne hat das nicht verdient. Der Mann würde sich die Einmischung verbeten haben. Und es ist ein Hohn der (Kunst-)Geschichte, daß ein Maler, der zeitlebens unter seinem despotischen Vater zu leiden hatte und diesem diverse sexuelle Traumata verdankte, nun von gelangweilten Kulturmiezen als „Vater der Moderne“ gefeiert wird. Von Picasso bis Giacometti haben die folgenden Generationen sich auf ihn berufen – die Zeitgenossen haben den eher linkischen Cézanne ausgelacht und aus dem Pariser Salon jedes Jahr aufs neue ausgeladen. Er war ein Loser, und das war seine Stärke.
Man verläßt die Ausstellung mit einer seltsamen Beklemmung: Statt der gewohnten Verwirrung ob der disparaten Themen und Techniken eines Lebenswerks empfand ich eine fast sakrale Heiterkeit – und so was läßt einen ja zusammenzucken. Alles ist so klar, so licht, so entspannt beim späten Cézanne, der Mann hat sein Lebtag sich nur mit Landschaften und Stilleben beschäftigt, zwischendrin gibt es den Zyklus der Badenden und ein paar Portraits, die aber eigentlich auch Stilleben sind; und manche dieser Ding-Arrangements (mit Ingwertopf und Äpfeln) sind so schön, daß man sofort ins Bild eintreten und selbst zum Ding im physikalischen Farbkosmos werden möchte. Geht leider nicht, ging auch für Cézanne nicht, der wahrscheinlich nichts sehnlicher gewünscht hat, wenn er „sur le motif“, vor dem Motiv, seiner Arbeit nachging – wobei man ja nicht nur zum Malen, sondern auch zum Morden ein Motiv braucht.
Denn, wir kommen zur Sache, vor der doch auch resignativen Erleuchtung des frühvergreisten, glatzköpfigen Eremiten Paul Cézanne steht das Jugendwerk, das dunkle Berserkern eines Wüterichs, wulstige schwarze Bilder mit dem Zugriff eines Goya, Entführungen, sexuelle Versuchungen, Totenköpfe; noch 1875 malt er ein derart höllisches Selbstportrait, daß Rilke nach der Gedächtnisausstellung 1907 dort „die sachlich interessierte Teilnahme eines Hundes“ bemerkte, „der sich im Spiegel sieht und denkt: da ist noch ein Hund“.
Das Hündische des Paul Cézanne hatte durchaus etwas Räudiges. Er war unzugänglich und stieß die Leute vor den Kopf: die Rebellion gegen den Bankier-Vater, der mit Sohni präzis bürgerliche Absichten hatte, transformierte Cézanne in eine bösartige Verachtung gegen die etablierten Pariser Salonmaler, die er durch Darstellung von Ausschweifung und Doppelmoral zu provozieren hoffte („Das Ewigweibliche“, „Nachmittag in Neapel“). Geplagt von Zweifeln über die eigene Begabung, versuchte er sich als Konventionszertrümmerer in Paris – und konnte sich dabei nie von Aix und der Provence lösen, aus der er stammte und in der er sterben sollte. Das Sexuelle bedrohte ihn, und seine panische Angst vor der Frau, die entmystifiziert, ironisiert oder per abstrahierender Darstellung neutralisiert werden mußte, ist in vielen Bildern dieser Ausstellung zu sehen. Dieses innere Chaos, diese barocke wilde Wut wieder in Ordnung zu bringen, das war die Lebensaufgabe – und die Landschaftsmalerei später war das Therapeutikum.
Denn Cézanne war einmal glücklich gewesen – als Jugendlicher, bei den Badeausflügen mit seinen Freunden Baille und Zola an die Arc. In den letzten Lebensjahren (er starb 1906) hat er das Thema wieder aufgegriffen: Die Menschen scheinen in der Natur zu verschwinden, die meist in blassen Blautönen changierende Farbe stiftet zwischen den nackten Leibern eine unsinnlich-transzendentale Eintracht, eine Harmonie, die es im Leben nicht gibt.
Der Bruch mit Zola, der sich in Paris weitaus geschickter bewegte, muß für Cézanne traumatisch gewesen sein: Der Jugendfreund nahm ihn 1883 als Vorbild für eine Romanfigur, einen erfolglosen Maler („l'÷uvre“). Doch im Grunde hatten sich die Wege schon viel früher getrennt: Der sozialkritische und in politischen Fragen (wie dem Dreyfus-Prozeß) ungleich hellere Zola war technisch immer Naturalist geblieben, während Cézanne sich auf der Suche befand. Er fand die Impressionisten (manche seiner Bilder würden auch als Monet durchgehen), und er fand, nach den bläßlichen Dächern von Paris, die Straßenbiegungen der Provence, die freundlich-mattblaue Fläche des Meeres, die kubischen Formen der Häuser im Midi.
Die Ruhe, die von diesen Bildern ausgeht, ist auf unglaublich intelligente Weise meditativ. Die von Pissarro angeregte Freiluftmalerei lehrt den Betrachter wieder, eine Landschaft zu lieben, die Wärme des Midi oder das intensive Grün der mittelfranzösischen Pontoise-Region mit seinen Lichtbrechungen, die bei Cézanne ein pointillistisch hingetupfter Raumeindruck sind. Jahrelang hat sich der Maler (an seinem Lebensende) mit dem Sainte-Victoire-Gebirge beschäftigt, an dem später der Aufstieg (oder Abstieg, je nachdem) des Peter Handke in die Innerlichkeit beginnen sollte. Die Bilder wirken wie hingetuscht, als hätte ein großer Sturm alle diesigen Stimmungen hinweggeweht und eine finale Klarheit hinterlassen. Bei den Meerbildern aus der nachimpressionistischen Phase verstärkt sich dieser Eindruck: Es wird alles fester, klarer, konturierter, flächiger. Vielleicht ist das ja auch Handkes Sehnsucht: Alles bürokratisch-komplizierte ist abgeworfen, die Welt ist ein Innenraum. Manchmal kann einem auch zu Cézanne nur Gottfried Keller oder Stifter einfallen – wäre da nicht Cézannes quasiphysikalisches Interesse an den Dingen, und wäre da nicht seine Menschenverachtung.
Man muß sich vor Augen führen, daß Cézanne zu Zeiten größter sozialer Umbrüche ein fast klösterliches Dasein führte: ein Monomane. Der pompöse gesellschaftliche Schnickschnack des Second Empire hat ihn nicht interessiert. Und vor der Pariser Commune ist er nach Aix, in die Einsamkeit, geflohen. Dort hat er sich mit Ingwertöpfen, Aquädukten, Alleen und Bäumen beschäftigt. „Ich mache nichts, was ich nicht sehe“ ist sein Motto (und das der Tübinger Ausstellung). Aber was sieht man schon?
Das Subjektive der Wahrnehmung mit dem „Wesen der Dinge“ (da war er Platoniker) zu versöhnen: das war das Ziel. Malen hieß für Cézanne übersetzen: aus der immer diffiziler werdenden Modulation nur der Farben eine eigene Welt komponieren, einen Rhythmus aus Farbe finden. Es ist ein Mißverständnis, wenn Joris-Karl Huysmans („A Rebours“) noch 1889 Cézannes „überreiztes Wahrnehmungsvermögen“ lobt und darin die Vorstufe eines neuen Stils sieht: Baudelairesche Hysterie und Dekadenz sind Cézanne völlig fremd gewesen; Offenheit und eine fast religiöse Ruhe bestimmen seine Bilder, die durch die Aufhebung der Zentralperspektive, durch die besondere Perspektivität jedes einzelnen Gegenstands im Bild eine ganz eigene, eine moderne Brechung erfahren: insofern ist Cézanne wirklich der Beginn der neuen Zeit.
Entscheidender aber ist, daß dieses kontemplative Malen auf der Flucht vor den Menschen stattfand: in der Landschaft fand Cézanne die Großzügigkeit, die ihm als Person nicht gegeben war, und so formte er die Sonnenhänge von Aix um in seinen eigenen, paradiesischen Idealraum. Er malte das, was ihm fehlte. Die Entscheidung für eine Farbtönung war die Entscheidung für eine Welt. Und auch die Äpfel und Kürbisse der Stilleben waren nicht so gefährlich wie die Frauen – Cézanne konnte zeitlebens aus dieser Angst heraus keinen Akt malen. Doch, einen hat er gemacht, eine potthäßliche Alte (1898), und die Tönung ihrer Haut im Verhältnis zum Hintergrund war ihm das Entscheidende.
Die Portraits seiner Ehefrau am Ende der Ausstellung zeigen dann endgültig Cézannes Menschenscheu, Lebensunfähigkeit, aber auch Misanthropie: Eine trübe Madame Cézanne in blauer oder roter Jacke ist immer nur Vorwand für kompositorische Farberkundungen. Wer seine Frau vor einen Vorhang stellt, weil er sich für den Vorhang interessiert, dem ist auf Erden nicht zu helfen. Oder nur durch Maltherapie. Die immerhin hat er bravourös absolviert.
Was bleibt? Ein Ingwertopf, eine Zuckerdose, eine Flasche, eine Decke – belanglose Dinge, die aber, perspektivisch verzogen, in einem verführerisch hellblau schimmernden Raum gemalt sind: im Raum der Abstraktion.
Und was all die Manager nebst Gattin in der Kunsthalle zu suchen haben? Fragt mich nicht. Fragt die Firma „Daimler-Benz und ihre Unternehmensbereiche“; die sponsern nämlich die Ausstellung. So isses: Ein Rüstungskonzern löhnt für Cézanne, damit Mutti ein bißchen Kunst gucken kann. So ein Cézanne-Apfel ist halt fast so wertvoll wie ein Panzerfahrzeug. Aber nur fast.
Bis 2. Mai täglich (außer Mo.) 10 bis 20 Uhr. Der Katalog kostet in der Ausstellung 39 Mark, in der gebundenen Buchhandelsausgabe 89 Mark.
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