■ „Politik und Ökonomie“ anläßlich eines Rockfestivals
: Vor Mitternacht

I'm waiting for the midnight hour – die chinesische Frauenband Cobra, im Heimatland gegenwärtig ohne Auftrittschance, aber für das China-Rock-Festival im Haus der Kulturen der Welt mit Ausreiseerlaubnis versehen, spielt das Soul-Stück vor einem enthusiasmierten chinesisch-deutschen Publikum als Zugabe. Später – weit nach Mitternacht – versetzt Coi Jian, das chinesische Pop-Idol der 80er Jahre, die Fans in den endgültigen Trance-Zustand. Er ist es auch, der dem in den Gesangstexten stets präsenten Spiel mit der Doppeldeutigkeit eine fast plakative Wendung gibt: Mit einer roten Augenbinde angetan, gleichzeitig Staatssymbol und Hochzeitsschleier, besingt er die Gewöhnung, die so übermächtig sei, daß man sie schließlich als Glück empfindet.

Zur gleichen Stunde meldet die BBC, aus dem Curriculum der Pekinger Volksuniversität werde das marxistisch-leninistische Pflichtrepertoire zur Ökonomie gestrichen. Noch in diesem Jahr sollen Dutzende von Skripten erscheinen, die statt der Planwirtschaft den Studenten die Geheimnisse des Marktes enthüllen werden. Selbstverständlich der sozialistischen Marktwirtschaft, die unter den vom letzten Parteitag bestätigten zwei grundlegenden Rahmenbedingungen (Reform und Öffnung einerseits, Festhalten an Ideologie und Praxis der kommunistischen Alleinherrschaft andererseits) aufblühen wird.

Eine zufällige Koinzidenz von Ereignissen, banal, aber gleichzeitig erhellend – und aufregend. Ist unter China-Experten nicht noch immer die Meinung vorherrschend, zwar könne allgemein gesprochen die ökonomische Liberalisierung nicht ohne gleichlaufende Demokratisierung erfolgreich sein – aber China sei eben die Ausnahme von der Regel? Und war Deng Xiaoping nach seiner erfolgreichen „Frühjahrsoffensive 1992“ und seinem spektakulären Sieg auf dem Parteitag über die Konservativen nicht in Aussicht gestellt worden, doch noch „als einer der bedeutendsten Chinesen der Neuzeit in die Geschichte einzugehen“ (Peter Schier)?

Gewiß, die Rockbegeisterung, die die Jugendlichen in der Volksrepublik mit ihren Altersgenossen in der Berliner Emigration teilen, kann ebenso als Zeichen der Entpolitisierung gedeutet werden wie der verbissene Fleiß, mit dem sich die chinesischen Studenten heute das „Weltniveau“ in den Wissenschaften aneignen wollen. Aber Musik wie Wissenschaft haben eine eindeutige Färbung: Sie sind nicht „lößgelb“ sondern „azurblau“, ganz so wie der Hoang-Ho- Fluß, der, nachdem er die Lößmassen des Festlands mit sich geschleppt hat, in den Pazifischen Ozean einmündet und sich in ihm auflöst. Dies die großartige Schlußszene von „Der Fluß stirbt jung“, jener Fernsehserie, mit der der entmachtete Parteichef Zhao Ziyang die konsequente Öffnung Chinas zur westlichen Modernität propagierte. Christian Semler