■ Die Selbstrepräsentation Europas angesichts zweier Kriege
: „Der Balkan“ – das sind wir

Der Jugoslawienkrieg scheint viel weniger ein Medienkrieg zu sein, als es der Golfkrieg war. Die Inszenierung auf dem Bilschirm spielt in diesem Krieg – jedenfalls für uns – keine vorrangige und vor allem keine faszinierende Rolle. Die Nachrichten und ihre Präsentation sind so ermüdend wie der Krieg selber – von hier aus gesehen. Die Berichterstattung macht nicht süchtig, sie ist nicht einmal ein verstohlener Genuß, eher eine lästige Pflicht. Dieser Krieg scheint uns nicht besonders zu interessieren, und das kann nicht nur daran liegen, daß er schon so lange dauert oder daß er weniger ästhetisiert und weniger ideologisch aufgeladen würde als der Golfkrieg. Es scheint nur noch darum zu gehen, diesen Krieg irgendwie zu beenden– gerecht oder nicht, das ist schon gleichgültig.

Woher das Desinteresse?

Das Desinteresse an diesem Krieg ist mindestens so erklärungsbedürftig wie der Krieg selber. Warum ist er uns lästig und gleichgültig zugleich? Warum horchen wir auf, wenn in Bagdad eine Rakete einschlägt, und schalten ab, wenn Sarajevo bombardiert wird? Ein religiöser, ein ethnischer, ein geopolitischer Krieg, eine Angelegenheit des 19. Jahrhunderts, so schieben wir diesen Krieg ideologisch und zeitlich von uns weg; ein Balkankrieg, so distanzieren wir uns räumlich und begründen uns, ohne uns darüber klarzuwerden, unser Desinteresse an ihm. Desinteresse ist eine recht wirksame Abwehrreaktion, aber doch eine recht unwirksame Täuschungstaktik, Desinteresse ist ein Symptom. Dieser Krieg geht uns viel mehr an, als wir zugeben oder auch nur wissen wollen, und unser Desinteresse an ihm ist als Hinweis darauf zu verstehen. Es legt die Frage nahe, was es sein könnte, das wir hier nicht zugeben und nicht wissen wollen.

Reden wir gar nicht davon, daß dieser Krieg eine Theorie in Frage stellt, die den Prozeß unserer Zivilisierung an Tischsitten und Badeverhalten festmacht. Denn es ist ja gerade das Wegschieben dieses Krieges, das uns erlauben soll, uns dennoch als zivilisiert zu begreifen, weil dieser Krieg mit uns nichts zu tun hat. „Der Balkan“, das ist nicht eigentlich Europa; „der Balkan“, das sind nicht wir. Erinnert man sich aber noch an die Sorge, die Auflösung der ČSFR könne zu ähnlichen Zuständen führen, wie sie jetzt „auf dem Balkan“ herrschen? Wären wir bereit gewesen zu sagen, Prag und Bratislava, das ist nicht Europa? Wo beginnt Europa, wo beginnt „der Balkan“? Daß wir mit diesem Krieg nichts zu tun zu haben glauben, ist ein deutlicher Hinweis: Der Balkan, das sind auch wir.

Diskurs und Krieg

Noch eine zweite unserer wichtigen Selbstrepräsentationen stellt dieser Krieg in Frage, und hier greift das Manöver der Verdrängung und der Abspaltung nicht mehr. Unsere Zivilisiertheit besteht demnach darin, daß wir gelernt haben zu reden, statt zu schießen. Eine der größten Merkwürdigkeiten dieses Krieges besteht aber darin, daß er fast von Anfang an von einem Diskurs begleitet wird, der für sich betrachtet ganz zivilisiert ist. Inzwischen ist aber kaum noch zu leugnen, daß nicht einfach einige hundert Kilometer von Genf entfernt das Morden, Foltern, Vertreiben und Vergewaltigen weitergeht, sondern daß der Diskurs selber es ist, der bis jetzt die Fortsetzung dieser Akte ermöglicht hat. Unser Glaube an die Macht des Diskurses, der für unsere Selbstrepräsentation so wichtig ist, erlaubte erst die Vereinnahmung dieses Diskurses für den Krieg. Die Konferenzen waren und sind noch ein Teil dieses Krieges und nicht sein anderes. Wo beginnt der Balkan, wo beginnt der Krieg? Jedenfalls nicht dort, wo Europa aufhört, nicht dort, wo der Diskurs aufhört.

Das wäre der Grund, weshalb uns der Golfkrieg interessiert, der Jugoslawienkrieg nicht. Der Golfkrieg hat unsere Selbstrepräsentation nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, er hat sie bestätigt. In der Darstellung des Golfkrieges wurde alles – bis zur Zensur – daran gesetzt, ihn als sauberen Krieg zu repräsentieren. Im Jugoslawienkrieg wird viel unternommen, ihn nicht allzusehr als den schmutzigen Krieg zu repräsentieren, der er ist. Im Golfkrieg wurde Wert darauf gelegt, ihn als Krieg des Über-Ich zu repräsentieren. Im Jugoslawienkrieg wird kein Wert darauf gelegt, ihn als Krieg des Umbewußten zu repräsentieren, obgleich man doch die Ethnien, die sich hier bekriegen sollen, das Blut, den Stamm als das Unbewußte Europas bezeichnen müßte. Der Golfkrieg wurde so repräsentiert, als ob sich in ihm das zivilisierte Über-Ich, die „Werte“, gegen einen Angriff verteidigten, und zwar so, daß im Akt der Verteidigung diese Werte nicht nur nicht außer Kraft gesetzt wurden, sondern sich quasi selber materialisierten, nämlich in der humanen, sauberen Perfektion der Treffer. Saddam Hussein hatte ein Gesicht, eine Sprache. In ihm haben wir unser auftrumpfendes Ich bestraft, jemanden, der über die Stränge schlägt, indem er sich etwas nimmt, was ihm nicht gehört. Und wir haben dieser Bestrafung fasziniert zugesehen. Saddam Hussein, das waren wir selber. Der Bildschirm wurde im Golfkrieg als Spiegel inszeniert.

Ganz anders der Jugoslawienkrieg. Hier ist der Bildschirm kein Spiegel, in dem wir der (Re-)Formierung unseres Ichs durch unser Über-Ich zusehen können. Wir repräsentieren diesen Krieg als irrationalen Ausbruch einer besonders blutigen und vor allem unkontrollierbaren Gewalt, in der wir uns nicht erkennen. Und deshalb sagen wir, der Balkan, das sind nicht wir, der Balkan, das ist nicht Europa. Dabei verdrängen wir völlig, daß gerade Jugoslawien (zusammen mit Ungarn) uns 40 Jahre lang als das humanste Gesicht der anderen Seite Europas galt. Wir haben plötzlich vergessen, daß wir noch am ehesten Jugoslawien (und Ungarn) zu „uns“ gezählt haben. Daß Jugoslawien uns jetzt ferner als der Irak ist, ist erklärungsbedürftig. Jugoslawien zwingt uns, in einen schmutzigen Spiegel zu schauen, in dem wir uns nicht wiedererkennen wollen oder können.

Der Ort des Todes

Slavoj Zizek, ein Slowene und Lacan-Schüler, hat darauf aufmerksam gemacht, daß „der Balkan“ in Freuds Werk als Ort des Todes und der Sexualität, als Ort obszöner und verdrängter Geheimnisse auftaucht. Nehmen wir an, daß uns in diesem Krieg nicht nur unsere jüngere, sondern auch so etwas wie unsere Urgeschichte einholt. Dafür spricht, daß wir diesen Krieg auch als einen der Ethnien, d.h. als Krieg des Blutes sehen, selbst wenn das zugleich unser Hauptgrund dafür ist, zu sagen, daß dieser Krieg nicht unserer ist. Nehmen wir also mit Zizek an, das europäische Unbewußte sei so strukturiert wie Jugoslawien, Jugoslawien sei das Unbewußte Europas. Dann können wir unser Desinteresse an diesem Krieg als Abwehrreaktion verstehen, und wir können verstehen, weshalb uns dieser Krieg mehr angeht, als wir wissen wollen. Wir sehen uns in ihm widerwillig mit einer blutigen Unvernunft konfrontiert, von der wir nicht länger behaupten können, sie sei das Andere Europas. Und wenn sie nicht das Andere Europas ist, sondern das andere Europa, dann können wir nicht so tun, als sei unsere Selbstrepräsentation durch diesen Krieg nicht erschüttert, und unsere Abwehrreaktionen können dann nicht mehr nur im Desinteresse und in der Kreation immmer neuer spiegelglatter Mythen bestehen, von denen „Europa“ leicht selber einer sein könnte. Reiner Ansén

Der Autor ist Philosoph und lebt in Berlin.