Der Wille zur Abfahrt Von Mathias Bröckers

Ich melde mich hier heuer mitten aus einer herrlichen Öko-Sauerei: dem Skiurlaub. 29.400 Personen pro Stunde baggern Bergbahnen und Lifte hier nach oben, und auf der Gipfelstation geht es zu wie auf dem Bahnhof Friedrichstraße. Wer sich da nicht auskennt mit den verschiedenen Zu-, Auf- und Abgängen landet leicht ganz woanders als laut Pistenfahrplan eigentlich vorgesehen. Nun will ich hier nicht das alpine Klagelied aufs Alpenrösli und Edelweiß und das vom Skilauf zutiefst gestörte Biotop der Berge anstimmen – daß es ein Terror ist, mit dem stinkenden Auto bis in die hintersten Täler zu schippern, sich dort mit Maschinenkraft auf die höchsten Gipfel hochzuwuchten, um sodann mit stahlkantenscharfen Plastikbrettern bergab zu fräsen, ist bekannt. Viel interessanter ist die Frage, was Millionen dazu bringt, diesen Terror mit Lust und Laune auszuüben. Das ganze Jahr über recyceln sie brav, benutzen das Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel, engagieren sich für Natur- und Artenschutz, doch sobald es geschneit hat und ein Berg lockt, sind sie nicht mehr zu halten: Sie wollen abfahren! Daß sich das Wort „abfahren“ aus dem Skifahrerslang in die Umgangssprache geschlichen hat als Synonym für „enthusiastisches Begeistertsein“, deutet bereits an, daß es sich bei diesem Willen zur Abfahrt um ein ganz besonderes Faszinosum handeln muß.

Als ich in den 60er Jahren dank eines sportiven Onkels in die Techniken der Spitzkehre und des Stemmbogens eingeführt wurde, war Skifahren noch ein Schicki-Micki-Sport. Bevor ich meinen ersten Lift zu spüren bekam, blickte ich bereits auf eine zehnjährige Skipraxis zurück, und vor jedes bißchen Abfahrt hatten die Götter den Schweiß gesetzt. Wer abfahren wollte, mußte zuvor aufgestiegen sein, ganz so, wie es Luis Trenker damals im Fernsehen erzählte: „Beim Sonnenaufgang in der Früha sammer vom Grödner Tal aufi, und als wir dann am Mittag oben auf am Sella-Joch ankumman sind, konnten wir unten im Tal den Kamin rauchen sehen, auf dem die Mutta die Supp'n für Abend scho aufgesetzt hat. Ja und dann, dann kam die wunderbare Abfahrt.“ Auch wenn er bisweilen schwer ins Braune abgerutscht sein mag, was den weißen Sport angeht, war er ein echter Grüner, der Trenker Luis. Derart geschwärmt hat er von der Abfahrt, daß 20 Jahre später die Leute auch wieder bis zum Mittag brauchten, um abfahren zu können – weil sie unten am Lift stundenlang anstehen mußten. Was dann dazu führte, daß jeder Alpenbauer, der über eine Wiese verfügte, diese mit einer „mechanischen Aufstiegshilfe“ ausrüstete und auf den Gipfeln jene bahnhofsartigen Labyrinthe entstanden, mit Restaurants, Boutiquen, Zeitungskiosken und Abfahrtsmöglichkeiten in alle Himmelsrichtungen. Der blanke Wahnsinn und ein wahrer Traum. Wenn keine Wolke am Himmel auftaucht und die Sonne in der fraktualen weißen Wüste eine Orgie aus Licht veranstaltet, entfaltet der Skilauf seine drogenartige Wirkung in Gänze. Es gibt kein perfekteres Antischwerkraftprogramm auf Erden, als gleitend auf einer Wolke aus Kristall ins Tal zu schweben. Und diese rauschartige Wirkung ist es, die den massenhaften Willen zur Abfahrt produziert.