Bei Londons jungen Obdachlosen

Flucht vor Gewalt in der Familie oder im Heim/ Leben auf der Staße oder in einer Notunterkunft  ■ Aus London Antje Passenheim

Andere in ihrem Alter haben vielleicht ein Foto, das sie an ihre Eltern erinnert, ein Plüschtier oder irgend etwas anderes, das sie von zu Hause mitgebracht haben. Cathy braucht nur an ihrem rechten Arm herunterzugucken, um an ihren Vater zu denken. Vernarbte, dunkelrote Brandwunden werden sie ihr Leben lang an das erinnern, was die inzwischen 16jährige mit dem Wort Kindheit verbindet: die runtergekommene, enge, stickige Wohnung in dem Backsteinwohnblock am Rande von Manchester, die sie mit ihren Eltern und vier Geschwistern teilte. Die Alkoholfahne des arbeitslosen Vaters, der sie oft wochenlang alleine ließ, wiederkam und ihre Mutter schlug... erst die Mutter, dann die ältere Schwester, schließlich Cathy selbst. Jahrelang war das so gegangen, bis Cathy im letzten Oktober, zwei Tage vor ihrem 16. Geburtstag, genug von diesem Leben hatte. „Als er den Topf mit kochendem Wasser nach mir schmiß, war es aus. Scheiße, dachte ich, du haust ab nach London, suchst 'n Job und 'ne eigene Wohnung. Irgendwie wird das schon gehen.“ Irgendwie, das glaubt das blasse, dünne Mädchen immer noch, irgendwie wird sie das schon hinkriegen. Spätestens, seit sie nach „weiß nicht wie vielen Horrornächten draußen auf der Straße“ endlich einen Platz gefunden hat, an dem sie sich sicher fühlen kann.

Noch verschlafen sitzt Cathy auf dem einfachen Pritschenbett, das sie seit fünf Nächten ihr eigenes nennen darf – zumindest vorübergehend. Wer nur diese Ecke des Raumes betrachtet, könnte meinen, sie gehöre zu einem ganz gewöhnlichen Jugendzimmer: Bunte, sorgfältig angepinnte Weihnachtskarten und Poster verdecken die schmuddelige, weißgetünchte Wand. Über dem Kopfende des Bettes baumeln ein paar Luftballons. Ein Strauß halbverwelkter Nelken bringt Farbe zwischen das Sammelsurium von Haarsprayflaschen, Cremedosen, Aschenbecher und Kippenschachteln auf dem kleinen Nachtschränkchen. Doch dieses mühsam aufgebaute Stückchen Privatsphäre mit Cathys paar Habseligkeiten wirkt in seiner Umgebung eher traurig. Cathys Bett ist nur eines von 15 anderen, die eng aneinandergereiht den Saal füllen, der einst als Station einer Frauenklinik genutzt wurde.

Die kühle Sterilität eines Krankenhauses haftet ihm auch heute noch an. Ein Gewirr von Kabeln und blanken Rohren erstreckt sich über die kahlen Wände. Fahles Licht fällt durch vergilbte Plastikjalousien auf den grauen zerkratzten Linoleumboden, der stellenweise mit kleinen Müllhaufen, Zigarrettenkippen und schmutzigen Wäschestücken bedeckt ist. Eine Zusammensetzung, die dem Saal in der stickigen Heizungsluft einen äußerst unangenehmen Geruch verleiht. Die geöffnete Tür zum benachbarten Wasch- und Toilettenraum macht das nicht gerade besser.

„Wenn du erst mal draußen pennen mußtest, kommt dir das hier vor wie ein Luxushotel“, meint Cathy, und ihre Bettnachbarin Denise nickt. Mit ihren 19 Jahren ist sie die Älteste im Raum. Mit Notunterkünften wie dieser hier hat sie Erfahrung. „Drei Jahre draußen – da weißt du, wovon du redest“, sagt sie fast stolz, doch was sie weiß, möchte sie lieber für sich behalten. „Laßt mich bloß in Ruhe. Das geht keinen was an“, erklärt sie genervt.

Cathy aber weiß, daß Denise ihre Mutter mit 14 das letzte Mal gesehen hat. Mit ihrem neuen Freund war sie einfach ins Ausland gegangen. Denise blieb bei ihrem großen Bruder – bis auch der sie vor die Tür setzte. „Seitdem verdient sie sich ihr Geld auf dem Strich. Das machen viele hier“, flüstert Cathy und deutet auf die anderen Mitbewohnerinnen, Mädchen, junge Frauen, die eines gemeinsam haben: Freiwillig, unfreiwillig haben sie ihr Elternhaus verlassen. Sie ließen meist ein Leben hinter sich, das sie als so wenig lebenswert empfanden, daß sie eines auf der Straße vorzogen.

Mit ihren Ersparnissen konnte Cathy die ersten Nächte in einer billigen Londoner Pension unterkommen. Als das Geld dann verbraucht war, mußte sie umziehen: der Waterloo-Bahnhof war die neue Adresse. In einer überdachten, gekachelten Passage, dem sogenannten „Bullring“, hatte sie sich wie viele andere AltersgenossInnen ein Karton-Lager gebaut. „Ich hab' oft wahnsinnige Angst gehabt. Nachts kamen Besoffene vorbei, die mit Flaschen nach uns schmissen und uns beschimpften“, so Cathy. Von anderen hatte sie schließlich von der Winternotunterkunft erfahren, die eine Hilfsorganisation im Londoner Stadtteil Soho bereits zum vierten Mal aus Regierungsgeldern bereitstellt. – „Centrepoint Soho“, so heißt sie, war 1969 die erste Londoner Einrichtung, die öffentlich Farbe zum wachsenden Problem der Obdachlosigkeit in der britischen Hauptstadt bekannte. Ihr ursprüngliches Ziel, der Obdachlosigkeit junger Menschen vorzugreifen, mußten die HelferInnen allerdings recht schnell der Realität anpassen. Wo akute Not alle Aufmerksamkeit verlangt, bleibt für Vorsorge nicht mehr allzuviel übrig.

Die tiefste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, die nun schon im dreizehnten Jahr am Inselvolk zehrt, hinterläßt auf Straßen, Parkbänken, Geschäftseingängen ihre Spuren. Eine inoffizielle Arbeitslosenzahl von rund vier Millionen und eine Politik ständiger Kürzungen an Sozialleistungen fordern ihre Opfer: Eine halbe Million der insgesamt 56 Millionen BritInnen wurden im vergangenen Jahr als obdachlos registriert, allein 114.000 davon in London. Rund 3.000 Menschen schlafen hier jede Nacht auf der Straße. Das zumindest sagt die Statistik. Doch wie viele Menschen hat sie nicht erfaßt?

Daß diese Tragödie gerade die schwächsten Glieder in der Kette besonders hart trifft, kann Centrepoint-Mitarbeiter Marc Grant mit alarmierenden Zahlen belegen: „Von den rund 2.500 jungen Leuten, die im vergangenen Jahr unsere Hilfe suchten, waren über die Hälfte erst 16 und 17 Jahre alt oder sogar jünger“, so Grant. Und was erst recht schockierend ist: „Fast jede oder jeder Dritte flieht vor sexuellem Mißbrauch oder anderer Art von Gewalt aus dem Elternhaus oder Kinderheim.“ Grant und seine sechs MitarbeiterInnen achten darauf, daß die Plätze der Notunterkunft im Herzen von Soho für diejenigen reserviert bleiben, die unter 21 Jahren sind. Die älteren werden an andere Bettenlager oder Herbergen verwiesen, die Centrepoint teils aus Regierungsgeldern, teils mit Hilfe von Spenden und Wohltätigkeitsvereinen unterhält. „Und trotzdem platzen wir aus allen Nähten“, stöhnt der Projektleiter.

Bis zu 40 Jungen und Männern, Mädchen und Frauen können die Centrepoint-Leute in dieser Notunterkunft von Dezember bis Ende März jede Nacht einen Schlafplatz im Warmen sowie kleine Mahlzeiten garantieren. Mit dem zunehmenden Ansturm kommt es in letzter Zeit allerdings immer öfter vor, daß Jugendliche auf die Warteliste gesetzt werden müssen. Im günstigsten Fall dauert es dann zwei Wochen, bis ein Bett frei wird. „In dieser Zeit“, so Grant, „setzen wir nämlich alles dran, um Dauerunterkünfte für die Kids zu finden – natürlich nur für die, die das auch wollen.“

Etliche, da will sich der Sozialarbeiter nichts vormachen, wollen sich an kein anderes Leben mehr gewöhnen, seien einfach zu frustriert. „Die hauen von Zuhause ab, kommen nach London, weil sie immer noch glauben, hier liegen Jobs und billige Wohnungen auf der Straße. Die brutale Wirklichkeit haut sie dann um. Sie fangen an zu klauen, um zu überleben, vielleicht zu dealen oder gehen auf den Strich und so weiter und so fort.“

Seit eine 1989 geänderte Sozialgesetzgebung Jugendlichen unter 18 auch noch die Sozialhilfe verwehrt, habe sich die Situation noch weiter verschlechtert, so Grant und steht auf, um seine Kids an die Hausordnung zu erinnern. „He, beeilt euch ein bißchen“, tönt er gegen den trällernden Frank Sinatra an, der ohrenbetäubend aus den Lautsprecherboxen über den Flur dröhnt. Gegen neun Uhr sollen sie die Unterkunft verlassen haben, damit saubergemacht werden kann. Bis acht Uhr abends bleiben die Türen dann zu, sofern kein Notfall vorliegt.

Grant verschwindet im Männerschlafsaal, um Eddy aus dem Bett zu werfen. Eddy war mit 13 zum erstenmal aus einem Heim abgehauen. Von anderen Jugendlichen seines Alters unterscheidet sich der 16jährige eigentlich nur dadurch, daß er ein wenig mehr trinkt als sie. Ob er trinkt, weil er keine Wohnung hat oder keine Wohnung hat, weil er trinkt, ist schwer zu sagen. Grant hofft jedenfalls, ihn sobald wie möglich in einer der 150 angemieteten Centrepoint- Wohnungen unterzubringen.

Bei Cathy und ihren Mitbewohnerinnen herrscht bereits Aufbruchsstimmung. Diejenigen, die wissen, daß sie einige Nächte wegbleiben, ziehen ihre Betten ab, die andern sind damit beschäftigt, ihre Plastiktüten oder Rücksäcke zu packen. Irgendwie erinnert das alles an eine Jugendherberge – mit dem großen Unterschied, daß die wenigsten hier aus Vergnügen reisen oder jemals wieder nach Hause können. An diesem Morgen lachen sie viel. Überhaupt verstehen sich die meisten von ihnen gut, halten zusammen, helfen sich, ersetzen sich gegenseitig ihre Familien, die sie oft niemals richtig hatten.

Den Tag verbringen alle woanders. Denise wird am Bahnhof King's Cross auf Freier warten, ihre Nachbarin muß Behördengänge machen und wird dann, sie kichert, „einkaufen gehen“. Cathy hat eine Verabredung am Waterloo-Bahnhof. „Dann hocke ich mich da hin und schnorre“, meint sie. Cathy hofft darauf, eine feste Bleibe zu finden, um ihre Schule fertigzumachen. „Anschaffen kommt nicht in Frage“, erklärt sie fest, „aber immer nur betteln ist auch ganz schön nervig.“ Zu oft müsse sie sich beschimpfen lassen. „Viele kommen dir mit klugen Sprüchen wie: Wenn du denen jetzt was gibst, dann lernen die doch nie, zu arbeiten.“ Zu gern, meint Cathy, würde sie das lernen.

Die zierliche junge Frau ist unter den letzten, die an diesem verregneten Morgen das Haus verlassen. Als Grant schließlich den Schlüssel im Schloß rumdreht, sieht er müde aus: „Das hier“, erklärt er, „ist nur die Spitze des Eisbergs.“