Die Zeit, als die Wolle kratzte

■ „Vom Trümmerkind zum Teenager“: Die Alltagsdinge der Nachkriegswelt in einer Ausstellung in Syke

Hausaufgaben am Wohnzimmertisch, wo sonst?Abb. (2): Begleitband

Gegen all die guten Gründen, nicht nach Syke zu gehen, spricht bis Mitte März einer: Das Kreismuseum Syke unter seinem experimentierfreudigen Chef Ralf Vogeding lädt zur Sentimental Journey in die 50er ein. „Vom Trümmerkind zum Teenager - Kindheit und Jugend 1945-1960“ heißt eine Ausstel

hierhin Kind an Tisch

lung, die aufs Üppigste die Nachkriegszeit und die Pubertät der Republik inszeniert - anhand von lauter Original-Plunder aus jenen Tagen.

Sollten Sie auch ab 40 aufwärts sein, werden Sie ähnlich reagieren wie die Gästebuch- SchreiberInnen (evangelische Kränzchen, LehrerInnen): Ah

und Oh, ja genau! Und wie die gehäkelte Wollunterwäsche gekratzt hat...

Kratzen, das scheint eine allgemein verstandene Matapher für die ganz harten Jahre zu sein. Die Socken kratzten. Das Leibchen, vielfach gestopft, die Pullover kratzten. Die braune gefilzte Wolldecke kratzte. Bis Perlon kam. Das kratzte nicht mehr.

Die Kratzedecke liegt auf einem Feldbett. Das Feldbett steht in einer „Notwohnung“. Packed for CARE ist auf den Leinensack gedruckt, der in einem wackeligen Regal neben dem Milchpulver liegt. Das CARE-Paket („Donated by the people of the United States“) samt Inhalt gehört zum Inventar des typischen Notquartiers nach '45 - damals lebten zum Beispiel in Bremen 18% der Schulkinder in Baracken, Gartenhäusern und Eisenbahnwaggons. Tisch mit Linoleumplatte, geflickt, eine Eisenkiste als Ofen, in der Ecke ein Henkelmann, eine grüne Filzjoppe am Haken, und hinterm Vorhang ein Feldbett. Kohlenklau-Zeit.

In Syke sind liebevoll Alltagsgegenstände versammelt, die, bis die 50er Mode wurden, auf dem Sperrmüll landeten. Alles, was mit so zauberhaften Worten wie Helanca, Hula-Hoop und Wellaform zu tun hat, mit Blechspielzeug, Halbstark und Cola, hat hier Museumswürde. Dabei zeigen manche Museen, weiß Museumschef Vogeding, auch heute noch angestoßene Holzlastwagen u.a. Armseligkeiten erst nach sorgfältiger Restaurierung. Daß die Gebrauchsspuren den nostalgischen Reiz ungemein verstärken, spricht sich erst langsam rum.

Natürlich stecken hinter dieser Ausstellung begeisterte AlltagsforscherInnen. Bremer StudentInnen der Kulturwissenschaft (Projektleitung: Prof. Dieter Richter) haben die Ausstellung für einen Leistungsschein gemacht. Sie haben gesammelt (per Annonce, auf elterlichen Speichern; die umfangreiche Sammlung einer Baronesse von Freytag Löringhoff stand zur Verfügung); sie haben Archive durchwühlt; sie haben die Textsorte „Ausstellungstext“ studiert; sie haben didaktische Fragen diskutiert.

Wenig Zeigefinger! Darauf, daß uns mehr als 30 Texttafeln informieren, müssen wir erst hingewiesen werden. Eine Abteilung mit rührendem, selbstgebasteltem Kinderspielzeug; ein Vorlesebuch, in dem überall „Hitler“ handschriftlich durch „Onkel“ ersetzt wurde; das rote Strickkleidchen, das alle kleinen Schwestern dieser Welt getragen haben (auf dem Bügel steht „Für unseren Liebling“) - es sind die Dinge, die sprechen. Manchmal ist es auch ein einziges Wort, das bei uns Alten eine Erinnerungslawine lostritt: „aufribbeln“! (Für die Nachgeborenen: Alte Pullover kamen nicht in Rote- Kreuz-Tüten, sondern wurden aufgeribbelt und neu gestrickt.)

In die Diskussion, ob die Nachkriegserziehung lediglich die Fortsetzung der Hiltlerjugend war, ob die Jugend freizügiger oder noch verklemmter als die Vorkriegsjugend, wie und ob die Entnazifizierung der Schul- und Kinderbücher funktionierte, gibt diese Ausstellung nur Material hinein. In aller Regel werden Fragen aufgeworfen.

Aber was sagt uns der monströse Bikini aus brauner (!) Strumpfwolle, Jahrgang 1949? An manchen Stellen hätte man sich doch einen Gedanken gewünscht. Wie bei Franz-Josef Wuermeling, Adenauers Familienminister, der dem Kinderreichtum aus dem Osten mit deutschem Kinderreichtum begegnen wollte. Die Ausstellung verschweigt, daß Kinderreichtum nach dem Krieg - Wuermeling hin, Wuermeling her - Stigma war und blieb.

Einmal, im Zusammenhang mit Nachkriegsspielzeug, wird von „Zeit und Liebe“ gesprochen, die damals herrschten. Das ist sicher nicht ganz falsch. Es erinnert ein wenig an die Rückblicke der Ex-DDRler; die zahlreichen BesucherInnen im Syker Kreismuseum werden das auch so sehen. Bus

„Vom Trümmerkind zum Teenager - Kinheit und Jugend 1945-1960“, eine Ausstellung der Uni Bremen, des Instituts für Kinderkultur und Popularkultur, des Kreismuseums Syke und von „Kultur Akzent Bremer Ausstellungs-Büro“. Bis 14.März. Geöffnet Di.-Fr. 14-17 Uhr, Sa. u. So. 10-12, 14-18 Uhr. Eine Publikation gleichen Titels, reich bebildert und instruktiv, liegt vor (Edition Temmen, 20 Mark).