Dichten ist kein Luxus

„Celebration of Life“ – Gedenkfeier für Audre Lorde in Berlin  ■ Von Felicitas Hoppe

Kein Wunder, daß alle sie lieben. Noch auf der Leinwand, in Videoaufzeichnungen von Lesungen und Gesprächen, hat die vor zehn Wochen an Krebs verstorbene afro-amerikanische Dichterin Audre Lorde mehr Ausstrahlungskraft und Präsenz als die meisten ihrer zahlreichen Nachruferinnen. Nicht daß diese sich bei der Gedenkfeier am vergangenen Samstag im Haus der Kulturen der Welt in Berlin mit ihr hätten messen wollen – tatsächlich war und ist Audre Lorde einzigartig: schön, klug, kämpferisch, sie verfügt über einen großartigen Humor, poetischen Wortreichtum und eine grandiose Stimme, die im manchmal fast singenden, radikal charmanten Vortrag ihren Worten an genau jenen Stellen pointiert Gewicht verleiht, an denen sie mißverstanden oder bei Nachahmerinnen zu Poesiealbum-Sprüchen gerinnen könnten. Audre Lorde ist also mit allem ausgerüstet, was sie zweifellos zu dem machen wird, was sie wahrscheinlich nie sein wollte: zu einer missionarischen Kultfigur.

Vorbild und Ruferin sein – das wollte sie allerdings mit Sicherheit. Geboren am 18. Februar als Tochter karibischer Einwanderer, wächst sie in einem sozialen und kulturellen Spannungsfeld auf, das ihr gesamtes Werk entscheidend geprägt hat. In „Zami“, ihrem autobiographischen Roman (deutsch 1982) beschreibt sie eindrücklich Erlebnisse aus ihrer Kindheit und Jugend: „Ich liebte DeLois, weil sie groß und schwarz und etwas Besonderes war und am ganzen Körper zu lachen schien. Aus genau den gleichen Gründen hatte ich Angst vor ihr. Eines Tages sah ich, wie DeLois langsam und voller Absicht bei Rot die 142th Street überquerte. Ein hellhäutiger Schönling in einem weißen Cadillac fuhr vorbei, lehnte sich heraus und schrie sie an: ,Na los, mach schon, plattfüßige, kraushaarige, komische alte Hexe!‘ Dabei fuhr er sie fast über den Haufen. DeLois ging in aller Gemütsruhe weiter und sah sich nicht einmal um.“

Nach ihrem Studium arbeitet Audre Lorde zunächst als Bibliothekarin, später lehrt sie englische Literatur am Hunter College in New York. 1968 erscheint ihr erster Lyrikband, neun weitere folgen, aber „Dichten ist kein Luxus“, so Audre Lorde in einem Essay von 1977: „Je mehr wir mit unserer eigenen, schwarzen, nicht europäischen Sicht des Lebens wieder in Berührung kommen und das Leben als etwas Erfahrbares und Veränderbares betrachten, desto mehr lernen wir auch wieder, Wert auf unsere Gefühle zu legen und diese verborgenen Quellen unserer Macht zu achten, aus denen echtes Wissen und wirksames Handeln entspringt.“ Das Werk nicht als Selbstzweck, sondern als Programm: „I am a Black Lesbian Mother Warrior Poet“ (Ich bin eine Schwarze Lesbe Mutter Kriegerin Dichterin) – so pflegt sie vielfach ihre Lesungen einzuleiten, eine radikale Selbstdefinition, der nichts hinzuzufügen ist. Definition allerdings nicht verstanden als Mittel zur Abgrenzung, sondern als eine Möglichkeit, Differenzen sichtbar zu machen, die als Kräftepotential genutzt werden sollen: „Mein Publikum ist jeder einzelne Mensch. Ich schreibe als die, die ich bin, für alle, denen mein Schreiben nützlich sein kann.“

Bei Audre Lorde, so scheint es, findet sich genau jene moralische Integrität und geradezu kongeniale Übereinstimmung von Leben und Werk, deren Fehlen im europäischen Kulturgetriebe so gern und nachhaltig bejammert wird, die aber tatsächlich nur aus Not ihre Notwendigkeit erhält und also nicht beliebig nachahmbar ist.

Folgerichtig hat sich ihre Arbeit zu keiner Zeit im literarischen Werk erschöpft. Audre Lorde ist Initiatorin zahlreicher internationaler Frauenorganisationen in den USA, Hawaii, Kanada, Neuseeland, Südafrika, England und Deutschland, wo sie sich besonders für afro-deutsche Frauen einsetzt. In Berlin unterrichtet sie kreatives Schreiben und afro-amerikanische Literatur, findet Verlegerinnen ihrer deutschsprachigen Werkausgaben und nicht zuletzt kompetente ärztliche Hilfe und Betreuung, so daß sie mehrere Wochen und Monate im Jahr in Berlin verbringt. Besorgt und empört reagiert sie auf zunehmende rechtsradikale Ausschreitungen in Deutschland und schreibt noch wenige Wochen vor ihrem Tod, am 17.November 1992, zahlreiche Briefe an deutsche Zeitschriften: „Was werden wir den Menschen erzählen können, wenn sie uns fragen: ,Wie war eure letzte Reise nach Deutschland? Wie sieht es jetzt in Berlin aus?‘“

Bezeichnend die unermüdliche Suche nach dem Gespräch, einem Dialog, der für sie, der Europa lange Zeit mehr Alp- als Traum war, nicht leicht zu führen ist. Aus ihrer Enttäuschung über die Kommunikation zwischen schwarzen und weißen Frauen, die „nicht imstande sind, die Worte von schwarzen Frauen zu hören oder den Dialog mit uns fortzusetzen“, macht sie keinen Hehl, aber „nicht die Unterschiede lähmen uns, sondern das Schweigen. Man hat uns dazu erzogen, unsere Angst wichtiger zu nehmen als unsere eigenen Bedürfnisse nach Sprache und Klarheit, und während wir schweigend auf den Luxus eines angstfreien Zustands warten, werden wir an dem Gewicht dieses Schweigens ersticken.“ Gleichzeitig bedeutet die Aufforderung zum Dialog eine Kampfansage gegen Schuldgefühle und Verteidigungshaltungen, denn sie „sind Steine einer Mauer, an der wir alle zerschellen werden, sie dienen keiner für uns wünschenswerten Zukunft“.

Zahlreich sind die Ehrungen, die Audre Lorde im In- und Ausland für ihre literarische und politische Arbeit erhalten hat. Im Frühjahr dieses Jahres wird ihr – posthum – an der Universität Osnabrück die Ehrendoktorwürde für Literatur verliehen werden. Sie ist damit die erste schwarze Autorin, die in der Bundesrepublik diesen Titel erhält.

Mehr als genug Gründe also, die feministische Dichterin in einer öffentlichen Gedenkfeier in Berlin zu ehren. Dennoch, eine leichte Aufgabe ist es nicht. Trotz guter Stimmung im völlig überfüllten Theatersaal und angesichts eines üppig mit Blumen, Früchten und Muscheln gedeckten Tisches vor der Bühne geriet die Feier selbst, eingebettet in afrikanische Trommelrituale, Tänze und Lieder, dann doch weniger zu der von den Veranstalterinnen gewünschten „Celebration of Life“ als zu einer im Lauf von geschlagenen elf Ansprachen eher ermüdenden Anhäufung von „Vermächtnissen, Aufträgen, Verantwortungen und Hinterlassenschaften“. Alle waren gekommen: Freundinnen, Verehrerinnen, Verlegerinnen und Künstlerinnen, zu guter Letzt sogar ein Mann, der Arzt und medizinische Therapeut Audre Lordes, der sich allerdings in seiner gefühlsgeladenen Ansprache zu einer etwas zweifelhaften Metaphorik der Krebskrankheit hinreißen ließ, die den tapferen Kampf Audre Lordes gegen ihre Krankheit denn doch in ein allzu gleißendes Licht tauchte.

Rufen ist wohl doch leichter als nachrufen und die hohe Kunst des Nachrufs kein leichtes Amt für die Hinterbliebenen, auf deren Schultern schwer der bei solchen Anlässen schier unabwendbare Diskurs traditioneller Sonntagsrede lastet, unter deren bekränztem Altartuch schon heimtückisch Mythos und Legende lauern.

So waren schließlich alle sichtlich erleichtert, als die Sängerin Audrey Moateng unter Lachen gestand, sie wage nun am Ende des Abends kaum noch, den Namen Audre Lordes laut auszusprechen und folglich zu abschließendem Singen und Klatschen überging. Später durfte dann der köstliche Tisch abgeräumt werden. Die meisten Frauen steckten ihre Nase in eine Blume. Ich biß in eine saftige Birne.