Kehraus in Moskau

Konspirative Nester und der freie Geist der Rummelplätze – „Luna Park“ von Pavel Lungin  ■ Von Christof Boy

So fängt es immer an. Man kann wegschauen, denn es geht einen ja nichts an. Zwei verfeindete Cliquen bekämpfen sich. Brutalität kennt keine ideologischen Grenzen. Motorradfreaks gegen Faschos. Langhaarige gegen Glatzen. Ein Gemetzel in einem Moskauer Vorort. Noch machen sie es unter sich aus. Das ist schrecklich, aber nicht weiter beunruhigend. Niemand greift ein. Der Film hat kaum begonnen, schon sind die ersten Untaten vollbracht. Und um anschaulich zu machen, worum es ihm eigentlich geht, setzt sich Andrej, der Anführer der nationalistischen Bande, an die Schalthebel einer Kettenraupe und pflügt alles unter: umgefallene Motorräder, stöhnende Lederjacken – kurz: das „Ungeziefer“. Bei den Rockern beginnen sie, es wird weitergehen mit anderen Minderheiten, die nicht dem neuen Ideal vom russischen Menschen entsprechen: Juden, Homosexuelle, Ausländer. Andrejs Gruppe nennt sich „Die Säuberer“. Kehraus in Moskau.

Der Schrecken tritt stets in bunter Maskerade auf. Vom Rummelplatz aus lenkt die burschikose Anführerin Aljona ihre Jungen in den Feldzug gegen Andersdenkende. Der Überfall auf einen Restaurantbesitzer, von dem die Bande Schutzgeld erpressen will, wird zur Tortenschlacht – zum ersten Mal kippt das Grausige ins Lächerliche um. Solange sie die Lacher auf ihrer Seite wissen, treiben die Mitglieder der Gang mit ihren Opfern gern makabre Späße. Nur Andrej bleibt an diesem Abend das Lachen im Halse stecken. Im Autoscooter verrät ihm Aljona, daß sein Vater nicht etwa Held der ruhmreichen sowjetischen Luftwaffe war, wie ihm von Kind auf erzählt wurde, sondern noch lebt – ein jüdischer Musiker namens Naum Kheifitz. Andrej ein Halbjude? Seine ideologische Welt bricht zusammen. Er macht sich auf, seinen Vater zu suchen – selbst nicht genau wissend, ob er ihn töten oder lieben soll.

Der russische Regisseur Pavel Lungin, für seinen Film „Taxi Blues“ 1990 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet, will von den Wandlungen eines verirrten jungen Mannes erzählen: „Ich wollte zeigen, wie einer, der wie ein Tier aufwachsen mußte, zu einem Menschen werden kann. Gewalt ist kollektiv, das Entkommen individuell.“ Ein schwieriges Unterfangen. Denn die Schilderung des persönlichen Schicksals kann schnell dazu führen, über das Verständnis für das Individuum hinaus die Zusammenhänge, aus denen es stammt, zu entschuldigen – das ewige Dilemma, Täter zu Opfern werden zu lassen, sobald man sich in ihre Perspektive hineinversetzt. Pavel Lungin umgeht diesen Zwiespalt, indem er Andrejs Empfindungen undurchsichtig hält. Er bewegt sich durch Moskau wie ein kalt funktionierender Befehlsempfänger, lange noch an seine Sache glaubend. Selbst als er schon längst nicht mehr mit dem Herzen bei der Organisation ist, versteckt er zum Ausspionieren seines Vaters Wanzen in dessen Wohnung. Naum Kheifitz, sein vermeintlicher Vater, lebt in einer riesigen Beletage, die er allerlei Gruppen und Menschen zur Verfügung stellt – für Harfenkonzerte, illegale Zockerabende oder für vermummte Eskimos, die sich zur Sitzung ihrer Gesellschaft des fernen Nordens treffen. Andrej ist angewidert und angezogen zugleich. Der freie Geist der Rummelplätze ist längst weggezogen aus den verrosteten Wagen der Achterbahn, die jetzt von den Fascho-Schlägern besetzt sind, und hat Unterschlupf gefunden in der Wohnung solcher Lebenskünstler, wie Naum einer ist.

Pavel Lungin entspinnt hier eine Mythologie, die er selbst als eine der Post-Perestroika bezeichnet. Die Kunst, und dazu gehört sein Kino, setzt sich gegen die unbegreifliche Welt zur Wehr. Sinn stiften in neuen Zusammenhängen, das ist die Stärke dieses chaotischen Haufens in Kheifitz' Wohnung – darin kann sich die Kunst gegen die Faschisten behaupten. Lungin ist ihr Botschafter. Er will nicht mehr urteilen – nur etwas erklären, das ist schon genug.

Der russische Rechtsradikalismus der nachkommunistischen Ära ist vor allem Attitüde. Nach und nach stellt sich heraus, daß sich – verbrämt hinter all dem ideologischen Ballast – handfeste ökonomische Interessen verbergen. Die unsichtbaren Hintermänner, die Andrej und seine Kumpane mit Waffen und Idealen versorgen, sind Immobilienhaie, die auf die großen Wohnungen der Intellektuellen scharf sind. Andere Absichten sind schlicht persönlicher Natur. Aljona, die Herrscherin im Luna Park, hat mit Naum Kheifitz eine alte Rechnung zu begleichen, weil der eitle Musiker sie einmal bei einem Vorstellungsgespräch hat abblitzen lassen. Mit ihrer Suche nach Anerkennung ist sie auch nicht anders als Andrej. In einem Land, das bis zur Perestroika nur die kollektive Idee propagierte, finden sich nach dem Untergang plötzlich Hunderttausende um ihr Selbst betrogen. Bei Pavel Lungin schafft es nur Andrej, sich von dieser Verbitterung der Seele zu befreien – vielleicht, weil er noch jung ist.

Ein Heilmittel gegen den blind wütenden Nationalismus kennt auch Pavel Lungin nicht. Andrejs Kehrtwende zum Menschsein ist ein einsamer Entschluß; auch ohne ihren Anführer sind die Brandstifter nicht zu stoppen. Naum Kheifitz' Wohnung wird verwüstet. Das konspirative Nest der Übeltäter verschwindet über Nacht – die Faschisten, zerstreut in alle Winde und damit unberechenbar, bereiten wahrscheinlich schon den nächsten Angriff vor. Hoffnung in dieser Verzweiflung bietet nur der Hauch von Humor, den Lungin sogar im düstersten Augenblick über seine Bilder breitet. Zu wagnerianischen Klängen verschwindet Aljona im Rauch der zusammenbrechenden Achterbahn. Sie wollte Naum Kheifitz umbringen, aber der hat selbst im Anblick des Todes noch eine kesse Lippe. „Hast du mich erkannt?“ fragt sie ihn. Er erwidert: „Ja, aber du bist noch dicker geworden.“

Da ist noch etwas, was die Kräfte gegen die faschistoide Bewegung bündeln könnte – die Neugier. Als Andrej entdeckt, daß es Fragen in seinem Leben gibt, die von seinen Verwandten nur zögernd oder offensichtlich falsch beantwortet werden, wird er aufmerksam.

Neugier ist das erste Zeichen eines erwachenden Bewußtseins. Das bedeutet aber nicht, daß sich zuletzt alle Mysterien entschlüsseln müssen. Auf der Flucht fragt Naum Kheifitz seinen neu gewonnenen Sohn Andrej nach der Frau auf dem Foto, das der Junge bei sich trägt. Es ist die Mutter. Naum ist eine Sekunde lang perplex. Dann lächelt er leise.

Pavel Lungin: „Luna Park“. Mit Oleg Borisow, Andrej Gutin, Natalia Jegorowa. Frankreich/Rußland 1992.