■ Jelzins Verzicht auf das Referendum
: Geschickte Machtsicherung

Vielleicht wäre es ja gut gewesen, wenn Boris Jelzin sich vor seinem Versuch, innenpolitische Probleme durch ein Referendum zu lösen, bei tschechischen Politikern umgehört hätte. Denn auch in Prag hatte man in den langen Monaten der Auseinandersetzung über die Trennung der ČSFR mit dem Gedanken gespielt, die Bevölkerung entscheiden zu lassen. Schnell jedoch wurde klar, daß durch ein solches Votum nichts klar gewesen wäre. Die Hauptfrage, wie das Zusammenleben der beiden Staaten gestaltet werden kann, hätte durch eine einfache „Ja–Nein“-Antwort nicht beantwortet werden können. Ähnlich verhält es sich auch mit Jelzins Vorstellung, die Bevölkerung zu fragen, ob sie einer präsidialen oder einer parlamentarischen Demokratie den Vorzug geben würden. Auch hier wäre die Ausarbeitung der konkreten Kompetenzen den Politikern überlassen, der Machtkampf nicht beendet und damit das eigentliche Ziel des Referendums nicht erfüllt worden.

Der jetzige Referendums-Verzicht Jelzins kann von der nationalkommunistischen Opposition natürlich als Niederlage des verhaßten Präsidenten gefeiert werden. Dennoch handelt es sich hier wohl mehr um den taktischen Rückzug des Machterhaltungs-Strategen. Ein für tatsächliche politische Entscheidungen untaugliches Instrument, das im Dezember in den Wirren des Volkskongresses half, den ganz großen Eklat zu verhindern, kann der Präsident nun seinen Gegnern als leichte Beute hinwerfen. Indem er seine Niederlage nur allzu offen eingesteht, schafft er sich gleichzeitig Raum für Forderungen an die Opposition: 1993, so Jelzin, solle ein Jahr des politischen Burgfriedens werden, die Wirtschaftreformen müßten nun Vorrang haben.

Zugleich liegt hier – und nicht in dem Verzicht auf das Referendum – jedoch auch die Gefahr für die demokratische Entwicklung des Landes. Rußland ist – mit Ausnahme einiger anderer Republiken der Ex- UdSSR – inzwischen das einzige Land, in dem keine Parlamentswahlen stattfanden. Um dem Reformprogramm eine demokratische Legitimation zu verschaffen und die ständigen Störmanöver des jetzigen, von KP-Funktionären dominierten Parlaments endlich zu beenden, wäre es notwendig gewesen, diese so schnell wie möglich auszuschreiben. Statt dessen wird mit dem Wunsch nach einem – zudem kaum realistischen – Burgfrieden die Entscheidung zwischen den Machtgruppierungen verschoben. Nachdem Jelzin bereits das demokratische Instrument des Referendums zur eigenen Machtsicherung mißbraucht hat, scheint er weiterhin nicht bereit, den Weg zum Aufbau eines demokratischen Systems ohne Umwege zu gehen. Sabine Herre