„Wir haben es uns so einfach gemacht wie die Polizei“

■ Schwule Anti-Gewalt-Projekte trafen sich/ Täter-Opfer-Ausgleich auch bei antischwuler Gewalt?/ Auseinandersetzung mit dem Thema Strich beginnt

Göttingen (taz) – Statt Gruppen, in denen über erfahrene Gewalt geredet wird, gibt es mittlerweile professionelle Opferbetreuung; Überfalltelefone werden vielerorts von geschultem Personal gemacht und werden demnächst gleich zwei bundeseinheitliche Rufnummern haben; erste empirische Studien lösen Spekulationen ab. Seit sich vor gut drei Jahren Gruppen und Projekte organisierten, um sich mit antischwuler Gewalt auseinanderzusetzen, fand eine Professionalisierung statt. Zur antischwulen Gewalt zählt Beleidigung, Nötigung, Erpressung, Raub, Körperverletzung, Mord, versuchter Mord und manchmal auch Vergewaltigung.

Auch mit der Streitfrage, ob eine Zusammenarbeit mit der Polizei legitim ist, wird heute pragmatischer umgegangen. Gespräche mit Polizeivertretern werden von vielen Projekten geführt; auch gab und gibt es in verschiedenen Städten Fortbildungen für Polizisten in Kooperation mit schwulen Anti- Gewalt-Projekten und gemeinsam herausgegebene Faltblätter, die in der Schwulenszene und auf Polizeirevieren ausgelegt werden.

Soweit die Bestandsaufnahme beim dritten bundesweiten Seminar „Antischwule Gewalt“, das im Waldschlößchen bei Göttingen stattfand und bei dem Projekte aus einem Dutzend westdeutscher Städte vertreten waren.

Erstmals diskutiert wurde, ob es auch in Fällen antischwuler Gewalt die Möglichkeit eines „Täter- Opfer-Ausgleichs“ statt eines Strafverfahrens geben sollte, eine Form der Konfliktschlichtung, bei der Opfer und Täter zu Gesprächen eingeladen werden und das Opfer eine materielle oder symbolische „Wiedergutmachung“ definieren kann.

Jens Dobler, der gerade im Auftrag des niedersächsischen Sozialministeriums eine empirische Erhebung über „Antischwule Gewalt in Niedersachsen“ durchführt, nennt Gründe dafür: Zum einen erhofft er „eine erhöhte Anzeigenquote, weil ein Ausgleich nicht öffentlich verhandelt wird“. Zugleich zweifelt er: „Wir haben immer gedacht, daß die meisten Schwulen deshalb keine Anzeigen erstatten, weil sie entweder ihre Homosexualität geheimhalten wollen, oder aus Angst, von der Polizei diskriminiert oder in einer Rosa Liste registriert zu werden. Das muß nicht immer zutreffen. Es kann auch sein, daß es viele Opfer für unnötig halten – zum Beispiel weil sie nichts von den Ritualen in Gerichtssälen halten oder die Tat für gering erachten.“

Die Dunkelziffer nicht angezeigter antischwuler Gewalt liegt bei 80 bis 90 Prozent. Pöbeleien, Beschimpfungen und Gewalttaten ohne Verletzungsfolgen – so eine aktuelle Studie von Michael Bochow – wurden lediglich von 15 Prozent der ostdeutschen und von acht Prozent der westdeutschen Opfer antischwuler Gewalt angezeigt. Aus seiner Studie geht ebenfalls hervor, daß acht von zehn befragten ostdeutschen und 20 von 24 westdeutschen Schwerverletzten Anzeige erstattet haben. Zum zweiten erhofft Dobler „eine Möglichkeit, Tätern ihre antischwulen Einstellungen zu nehmen und damit eine Wiederholungstat zu verhindern“. Außerdem „mehr Mitsprachemöglichkeiten des Opfers, das in einem normalen täterorientierten Strafverfahren nur als Zeuge zu Wort kommt“.

„Antischwule Gewalt“, so ein Gegenargument zum Täter-Opfer-Ausgleich, „richtet sich nicht gegen die Person, sondern gegen den Schwulen“ – folglich könne vom Opfer „nicht erwartet werden, daß er sich als Objekt der Aufklärung zur Verfügung stellt“.

„Bislang haben wir es uns zu einfach gemacht – genauso einfach wie Polizei und Medien“ resümiert ein Teilnehmer: „Stricher und andere Gruppen waren für uns bislang einfach Täter. Wir haben uns nur mit dem klassischen Schwulenklatschen auseinandergesetzt.“ Natürlich gäbe es „Beschaffungskriminalität und Jungs, die sich als Stricher ausgeben und keine sind“. Aber „auch wir haben an das Bild des heterosexuellen Drogenbeschaffungsstrichers geglaubt und nicht begriffen, daß die meisten Stricher schwul sind“. Von Stricherselbsthilfegruppen wie quer/ strich in Berlin wird das Thema mittlerweile differenzierter diskutiert. „Gewalt“, so Thomas Schwarz, Streetworker in Berlin und quer/strich-Mitglied, „findet unter einigen Strichern, von Freiern gegen Stricher, von Strichern gegen Freier und von Ordnungskräften gegen Stricher statt.“ Um zu begreifen, was dort „in der Begegnung zwischen Stricher und Freier passieren kann, muß man sich die Situationen vergegenwärtigen“, erklärt er, der seine Kompetenz durch eigene Berufserfahrung gewonnen hat.

Dazu gehört, zu begreifen, daß auch Stricher vergewaltigt werden können, beispielsweise „wenn ein Freier Sexualpraktiken fordert oder erzwingt, die vorher nicht abgesprochen waren. Das kann ein paarmal passieren, und irgendwann rastet der Stricher dann aus.“ So ließe sich auch „die besondere Brutalität erklären, die bei Morden an Freiern angewandt wird“. Auch andere „Überforderungen“ wie abgeschlossene Türen, Fesseln, Rollenspiele und anderes können der Auslöser sein, gerade „bei Einsteigern“ oder denjenigen, die „nicht so leicht nein sagen können“, weil sie beispielsweise einen Schlafplatz brauchen.

Freier, gerade Familienväter, „können nach dem Sex in Panik geraten aus Angst davor, daß Dritte davon erfahren könnten oder vor einer Anzeige“. Letzteres hängt mit dem Paragraphen 175, aber auch mit der geplanten Nachfolgeregelung zusammen, die Sex mit Strichern unter 16 explizit unter Strafe stellt. „Damit werden junge Stricher noch weiter aus der Öffentlichkeit gedrängt und sind noch schwerer erreichbar für Sozialarbeit.“ Deutlich wurde auch, „daß Gewalt nur ein Teil des Berufsalltags darstellt und für viele, gerade für Callboys und professionelle Stricher, fast keine Rolle spielt“. Angedacht wurde auch die Möglichkeit von Konfliktschlichtungen zwischen Freiern und Strichern, „denn auch Schwule können Täter sein“. Jean-Jacques Soukup