Sorry oder Shut the fuck up! Von Michaela Schießl

Wenn Japan das Land des Lächelns ist, ist London die Stadt des „Sorry“. Der Brite entschuldigt sich unentwegt. So glaubt zumindest der arglose Besucher. Sorry, sagt der Brite, wenn er sich an dir vorbeidrängelt, sorry, wenn du ihm das Taxi wegschnappst. Steigst du ihm auf den Fuß, sagt er sorry, so wie ein Teddybär brummt, wenn du ihn umdrehst. Sorry, kurz, gehört zur britischen Kultur wie orangenfarbene Würstchen in Pfefferminzsauce. Doch während bei zweiterem die Message klar in den Gaumen graviert wird („Iß dies, oder du hast hier nichts verloren“) ist die Sorry-Manie subtiler.

„Sorry“, erklärt ein in London lebender Deutscher, kann alles bedeuten. Oft heißt es schlicht: „Fuck you“. Oder „piss off“. „Auf den Ton kommt es an.“ So ist der Brite die europäische Antwort auf den Asiaten. Was sich wiederum die in London lebenden Asiaten zunutze machen: Sie kultivieren die Britenmacke, um die eigenen, geschäftsschädigenden Höflichkeitsrituale, Gastfreundschaft etwa, abzulegen. Gehen Sie im betriebsamen Chinesenviertel nahe dem Leicester Square essen, und Sie wissen, was ich meine. Der Mantel hängt noch nicht am Haken, schon steht der Ober bereit. Ruckzuck wird gedeckt, ruckzuck serviert. Was aber, wenn nicht ruckzuck gespeist, gezahlt und gegangen wird? Dann kommt die Sorry-Waffe zum Einsatz. „Sorry“, sagt die Chefin angesichts des Schubes neuer Gäste, „you've finished yet.“ Sie entschwindet mit dem Teller, wo Sie die knusprigsten Stücke der doppelt gebratenen Ente bis zum Schluß aufbewahrt hatten. So leicht aber geben Sie nicht auf. Tags darauf testen Sie ein Thai- Restaurant im Stadtteil Clapham. Außerhalb des Citybereichs nämlich sind die Gaststätten — der Brite muß sparen — gähnend leer. Die Chance, vorzeitig rauszufliegen, ist somit minimiert. Allein, Sie unterschätzen die Anwendungsmöglichkeiten des Sorry. „Sorry“, flötet die Bedienung, „das englische Bier ist ausgegangen. Wollen sie Thai-Bier?“ Falle eins, Sie tappen rein. Denn Thai-Bier kostet leider sechs Mark fünfzig. Sorry. Schade auch, daß die „roasted duck“ zu den besonders zähen Vertretern ihrer Art gehörte, sorry. Der bestellte Reis erreichte den Tisch nie, findet sich aber auf der Rechnung wieder. „Oh, I'm so sorry“, sagt die Bedienung. Kennen Sie schon, den Trick. Sie suchen Trost im Pub, doch, sorry, es ist zu spät. In London hört das Nachleben um 23 Uhr auf. Außer in Clubs. Also ab ins „Jazz Café“ zur Live- Musik. 15 Mark lassen Sie sich die Erkundungsreise in Londons legendäres Musikleben kosten und befinden sich kurz darauf in einer Art italienischer Eisdiele. Vierzig Menschen lauschen zwischen kahlen Wänden dem Sextett. Mehr oder minder emotionslos. Britische Zurückhaltung, denken Sie, Understatement eben, Feinsinn für die Musik. Der Brite ist eben Kulturmensch. Was aber haben die geheimnisvollen Buchstaben STFU dort an der Wand zu bedeuten? Eine Nichtraucherorder? Nein, in der ersten Reihe wird geraucht. Der Nachbar hilft weiter: „STFU?“ Er grinst. „That means: Shut the fuck up.“ Will heißen: „Halt gefälligst dein verdammtes Maul.“ Kulturmenschen. Understatement. Zurückhaltung. Feinsinn. I'm so sorry.