Das humanitäre Feigenblatt

Unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe wird die militärische „Einflußnahme im Sinne unserer Interessen“ wieder salonfähig gemacht  ■ Von Mechtild Jansen

Die führenden Staaten Europas sind heute auf dem Wege zu einer Politik der militärischen Interventionen als einem neuen Zustand von Normalität. Es sieht aus, als werde ein staatliches Souveränitätsverständnis verankert, das seinen höchsten Ausdruck in der Kriegsfähigkeit findet. Wir erleben dabei eine Neuauflage der Vorstellung vom gerechten Krieg, diesmal zur Rettung der Humanität.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, vollends mit dem Ende der Kolonialzeit in den 60er Jahren, war in Europa die Politik mittels militärischer Interventionen, zumal außerhalb des eigenen Kontinents, passé. Vor dem Hintergrund nationaler Befreiungskämpfe galten sie nicht nur als mittlerweile problematisch – sie waren auch nicht mehr notwendig, weil in den ehemaligen Kolonialländern einheimische Ordnungsmächte nach westlichem Gusto inthronisiert worden waren, die die Wahrung der westeuropäischen Interessen garantierten. Der Kalte Krieg bildete das machtpolitische Dach dieser Zeit, das alle Konflikte militärisch unter Kontrolle hielt.

Diese Ära ist nun vorbei. In zahlreichen Regionen sind die schlummernden Konfliktpotentiale freigesetzt, neuordnende Kräfte sind kaum in Sicht. Korruption, ökonomischer Zerfall, soziale und nationale Spaltungen sowie gewalttätige Konfliktentladung haben solche Ausmaße angenommen, daß das reiche Europa nicht mehr politisch durch Befreiungsbewegungen, auch nicht mehr militärisch durch Gegenmachtpotentiale, sondern durch ökonomisches Ausbluten, Flüchtlingsbewegungen, Gewalt und politisches Chaos bedroht ist.

Auf dieser Analyse basieren längst alle Weltneuordnungsvorstellungen. Die Europäer modernisieren ihre Methoden und Mittel der Interessenwahrung. Das geschieht teils in Weltmachtkonkurrenz, teils in Arbeitsteilung mit den USA und unter Inanspruchnahme der UNO.

Die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien des deutschen Verteidigungsministeriums bieten hier gutes Anschauungsmaterial. Sie gehen von einem „weiten Sicherheitsbegriff“, einem „ganzheitlichen Ansatz von Schützen und Gestalten“ und einer Risikoanalyse aus, die vor allem die „latente Stabilitätsgefährdung, globale Risiken und das dazu notwendige Krisen- und Konfliktmanagement“ bemüht.

Militär soll nicht mehr vor gewalttätigen Angriffen auf das Leben schützen, sondern vor der Infragestellung westlicher Wertbegriffe wie „pluralistische Demokratie, soziale Marktwirtschaft, freier Welthandel, Zugang zu den Rohstoffen“. Europäische und weltweite „Einflußnahme im Sinne unserer Interessen“, das bedeutet den Übergang von einer Verteidigungspolitik zur vorbeugenden imperialistischen Interessenspolitik. Neu ist, daß diese im Namen der Humanität erfolgt. Menschen werden durch europäische Soldaten vor dem Verhungern gerettet, vor Totschlag, vor der Verletzung ihrer Menschenrechte oder demnächst vor ökologischen Katastrophen.

Die humanitäre Begründung besticht aus mehreren Gründen. Die Beispiele Irak, Somalia oder Jugoslawien (demnächst die GUS- Staaten) zeigen zum einen, wie das Militär – sind die Probleme erst entsprechend ausgewachsen – eine eigentümlich gemischte Rolle erhält, wenn es als Retter vor der Barbarei auftritt. Daß man dem Humanitätsanspruch mißtrauen muß, zeigt deutlich die kühle militärische Kosten-Nutzen-Rechnung im Falle Jugoslawiens, das allenfalls dafür herhalten durfte, die Schranken des Grundgesetzes für die Bundeswehr zu sprengen. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel war in keinem jüngeren Fall von Intervention gegeben.

Mit Hilfe des humanitären Anspruches lassen sich des weiteren die eigenen Ordnungsinteressen problemlos als zum Besten der von der Hilfe Beglückten darstellen. Und schließlich ließe sich kein besserer Weg denken, als die Antikriegshaltung der europäischen Öffentlichkeit durch den Hinweis auf die wahrhaft gebotene Rettung der Menschheit zum Schweigen zu bringen und damit den modernen Krieg wieder möglich, weil akzeptiert, zu machen.

Die Autorin ist Mitglied des „Netzwerks Friedensforscherinnen“