■ Mit der Standortwahl auf du und du
: GM darf nicht umziehen

Washington (taz) – Gemäß der marxistischen Theorie hat die Justiz im Kapitalismus für die Arbeiterklasse nie viel übrig gehabt. Doch der Automobilkonzern General Motors (GM) konnte sich in den letzten Tagen zu seinem eigenen Verdruß auf diesen Grundsatz nicht mehr verlassen. In altbewährter Manier wollte GM, von Milliardenverlusten auf dem US-Markt erschüttert, seine Niederlassung in Ypsilanti im US-Bundesstaat Michigan schließen, was der Zahl der Arbeitslosen in den USA weitere 2.500 hinzugefügt hätte. Die Stadtverwaltung klagte vor dem Bezirksgericht, und am Dienstag sprach Richter Donald Shelton in einem bislang einmaligen Prozeß ein (vorläufiges) Machtwort: GM darf die Fabrik nicht schließen, weil der Konzern 1984 und 1988 der Stadt Ypsilanti Steuererleichterungen in Höhe von 250 Millionen Dollar abgerungen hatte – gegen das Versprechen, die Produktion bis Ende der neunziger Jahre aufrechtzuerhalten. Dies komme, so Richter Shelton, einem Vertrag gleich, den GM auch einhalten müsse.

In Ypsilanti wird bislang der „Chevrolet Caprice“ hergestellt, dessen Verkaufszahlen in der letzten Zeit zurückgegangen waren. Die Produktion des Caprice sollte nach den Plänen der Konzernleitung bis zum Sommer diesen Jahres in die GM-Niederlassung nach Arlington, Texas verlegt werden – unter anderem, weil sich die texanischen Arbeiter im Gegensatz zu ihren Kollegen im Norden bereit erklärt hatten, drei statt der bislang üblichen zwei Tagesschichten zu schieben. Insgesamt will GM in den nächsten drei Jahren 23 Fabriken schließen und 74.000 Arbeitsplätze abbauen.

Nun gibt der Konzern seinen Glauben an die Justiz so schnell nicht auf. Während die Arbeiter im Gerichtssaal nach der Urteilsverkündung lauthals jubelten und Beifall klatschten, kündigte Konzernsprecher Peter Ternes an, GM werde umgehend bei der nächsthöheren Instanz, dem Michigan Court of Appeals, Berufung einlegen. Sheltons Entscheidung sei einmalig und widerspreche Fakten und Gesetz.

Mit ersterem hat Ternes zweifellos recht. Letzteres ist, wie so häufig, Ansichtssache. In mehreren US-Bundesstaaten wird laut Gesetz als Vertrag angesehen, wenn ein privater Unternehmer von einer Gemeinde oder Stadt Steuervergünstigungen erhält und dafür Arbeitsplätze verspricht. Die VolksvertreterInnen in Michigan haben allerdings ein solches Gesetz nie verabschiedet – offenbar in dem Irrglauben, ihr Bundesstaat würde auf ewig das Mekka der US-Autoproduktion bleiben. Das stellte auch Richter Shelton bedauernd fest – und bediente sich ersatzweise einer Konstruktion aus dem englischen Gewohnheitsrecht. Demnach liegt ein Vertrag vor, wenn die eine Seite aufgrund von Versprechungen von der anderen Seite Vergünstigungen erhalten hat. Andrea Böhm