Auf der Suche nach Geschichte(n)

Das einstige Berliner Zeitungsviertel belebt sich wieder/ Neubauten des Springer-Verlages und der taz sowie Planungen für das Mosse-Haus und das Bertelsmann-Medienzentrum/ Beginn eines neuen Medienzeitalters  ■ Von Rolf R. Lautenschläger

Die toten Geister des Berliner Zeitungsviertels und den Mythos der wirbelnden Rotationsmaschinen der 20er Jahre beschwören die Verlagshäuser in Berlin bis heute. Pathos und Metapher des einstmals großen Zeitungszentrums entlang der Kochstraße, an der Jerusalemer und Schützenstraße zwischen den Bezirken Mitte und Kreuzberg rücken seit dem Fall der Mauer ebenso mächtig ins Blickfeld neuer Planungen wie der Potsdamer Platz. Der Springer- Verlag hat mit dem Rohbau einer Hochhausscheibe begonnen, die an das goldgelbe Pressehaus angefügt wird. Die Tageszeitung (taz) hat ihren Neubau 1991 beendet; auf dem Reißbrett liegen noch Entwürfe eines „Taz-Towers“ an der Kochstraße. Der Bertelsmann- Verlag entwickelt Perspektiven zur Errichtung eines „Internationalen Medienzentrums“ (IMZ) am Spittelmarkt.

Für das einstige Haus des Mosse-Verlags an der Jerusalemer/ Ecke Schützenstraße gibt es jetzt Überlegungen, die historische Fassade zu rekonstruieren und den gesamten Block für ein „Mosse-Zentrum“ mit Studios und anderen Medienräumen zu reurbanisieren. Die Planungen assoziieren die Geschichte des Schauplatzes der schnellen Information und Kommunikation, Atemlosigkeit und Rasanz der „Medienstadt Berlin“ am traditionellen Ort. Hinzu kommen die Projekte für die Bebauung des Areals Checkpoint Charlie, an dem die Wochenpost liegt und erste Vorstellungen für ein multifunktionales Geschäftszentrum entstehen, in das auch kleinere Studios und Verlage einziehen könnten.

Der Mythos der Schnelligkeit

Berlins einstiges Zeitungsviertel prägte eindrucksvoll den Mythos von schnittigen Architekturen und dröhnenden Rotationsmaschinen, von Zeitungszaren und dem Rennen nach der schnellen Information. Die „schnellste Stadt der Welt“ fokussierte an der Peripherie zur inneren Stadt ein urbanes Quartier, mit Distanz zum Zentrum, eigener Lebendigkeit und literarischen Bildern sowie einer räumlichen Mischung von Arbeits- und Wohnorten.

Zwischen 1910 und 1933 war Berlin die wichtigste Produktionsstätte deutscher Zeitungen gewesen. Das Zeitungsviertel erreichte seinen Höhepunkt am Ende der zwanziger Jahre, als in der Stadt 45 Morgen- und Tageszeitungen, 14 Abendzeitungen und rund 80 weitere Wochen- und politische Zeitungen erschienen. Hinzu kamen illustrierte Nachrichtenblätter und Magazine.

Die Zeitungsstadt berühmt machten die großen Verleger Ullstein, Scherl und Mosse mit ihren Redaktions- und Druckhäusern, aber auch Journalisten wie Tucholsky, Egon Erwin Kisch oder Carl von Ossietzky. Politik und Kultur, Wirtschaft und Sport verdichteten sich im Satzspiegel der Metropole zu gewaltigen Auflagen: das Berliner Tageblatt brachte es auf täglich 300.000 Exemplare, die Berliner Morgenpost hatte eine Auflage von 600.000. Die Berliner Illustrierte Zeitung verkaufte jeden Tag 1,6 Millionen Zeitungen, die BZ rangierte mit 180.000 Auflage vor der Vossischen Zeitung mit 55.000 Exemplaren.

Neu waren auch technische Verfahren für ein Massenpublikum. Aufmacher und Abbildungen hatten die spezielle Aufgabe, den Leser zu interessieren. Die Aufteilung der Ressorts in Außen-, Innen-, Lokalpolitik und die Fachredaktionen Sport, Wirtschaft, Kultur fand statt. Graphik und Layout erhielten eigene Abteilungen. Anzeigen trugen zur Wirtschaftlichkeit der Blätter bei.

Raum für Utopien

Es war kein Zufall, daß moderne Architekturutopien die Berliner Medienhäuser in Szene setzten: Erich Mendelsohns Verlagsbau (1921–23) für den Verlag Rudolf Mosse stülpte dem alten Mosse- Bau in der Jerusalemer/Ecke Schützenstraße eine elegante Eckfassade und zusätzliche Geschosse über. „Das entspricht nicht Potsdam oder Neu-Ruppin“, schrieb euphorisch der Architekturkritiker Adolf Behne, „sondern Großstadt, moderner City und Arbeitstempo“. Der Ullstein-Verlag baute zur Entlastung des Stammhauses ein neues Druckzentrum. In Tempelhof entstand 1925 ein expressiver roter Hochhausturm als markantes bauliches Zeichen – zugleich ein frühes Beispiel für die Trennung von Redaktions- und Druckhaus. Das „neue Berlin“ spiegelte sich auch im zweiten, erst gegen Ende der zwanziger Jahre entwickelten „Medienzentrum“ Berlins – dem Gelände an den Messehallen und unter dem Funkturm. Hans Poelzig schuf das „Haus des Rundfunks“ (1928–31), einen sachlichen dreieckigen Baukomplex, der um den Lichthof ein Verwaltungszentrum aus Büros, Studios, Archiven und Sendesälen versammelt.

Die „Lichter der Großstadt“ gingen im Berliner Zeitungsviertel zweimal aus: 1933 terrorisierten die Nationalsozialisten durch Zensur, Gleichschaltung und Enteignung die Zeitungsverlage. 1945 starb die Zeitungsstadt im Bomben- und Granathagel. In den 50er Jahren wurden die Ruinen gesprengt, die Trümmer beseitigt. Das Zeitungsviertel gab es nicht mehr.

Die Kochstraße und ihr Umfeld sind heute strukturiert von wenigen Verlagen, Autoabstellplätzen, anonymen Bürohochhäusern neben erhaltenen Resten alter Bausubstanz sowie den Architekturen für Wohn- und Geschäftsbauten der Berliner IBA. Im Rücken des Areals tut sich der einstige Mauerstreifen als flirrende Freifläche auf: fragmentarisch und identitätslos, doch auf der Suche nach Geschichte(n).

Zweifellos werden die Erinnerungen an die Bilder der Vergangenheit bei Gerhard Spangenbergs Planungen für die taz aktualisiert: das moderne Pressehaus interpretiert den alten Stadtraum und stellt seine Funktion als Zeitungsverlag direkt aus. Der 1991 fertiggestellte, sechsgeschossige Neubau schließt an die östliche Brandwand eines denkmalgeschützten Gewerbegebäudes aus der Jahrhundertwende an, in dem die Redaktion der taz seit 1988 residiert. Der 5,7 Millionen Mark teure Erweiterungsbau für die Abteilungen Verwaltung, Technik, Layout, Satz und Reproduktion sowie die Fotoredaktion wurde als filigrane Skelettkonstruktion in Stahlverbundbauweise ausgeführt. Im Erdgeschoß befindet sich eine Buchhandlung: Spangenbergs Reminiszenz an die „Kreuzberger Mischung“. Den Dialog mit der Vergangenheit führt die transparente immaterielle Fassade nicht nur durch die Wiederherstellung des ursprünglichen Straßenprofils. Zugleich bezieht sich der Neubau auf die erlebbare Geometrie des Altbaus. Geschoßhöhen wurden übernommen, die horizontalen Gliederungen der gleichfalls verglasten Fassade zitiert. Doch ein Gefühl der Anpassung entsteht nicht. Der Neubau demonstriert Distanz, Modernität und Eigenständigkeit – Selbstbildnis der lebendigen, offenen Zeitung.

Selbst-Zitat

Weniger den alten Zeitungsort als vielmehr sich selbst zitiert der Entwurf Rolf Hartmeyers für den Erweiterungsbau des Springer-Verlages (1992/94). Das 55 Millionen Mark teure Bauvorhaben an der Ecke Koch/Lindenstraße sieht eine 78 Meter hohe, neunzehngeschossige Stahlbetonscheibe vor, die sich exakt der Formensprache des Altbaus bedient und an diesen nach einem zurückspringenden Treppenturm rechtwinklig anschließt. Zusammen mit dem Gebäude aus den 60er Jahren bildet das Ensemble die Form eines T und stellt mit dem angedockten Flügel eine ganze Schauseite der östlichen – nicht mehr kommunistisch regierten – Stadtseite zur Ansicht. Die schmale aufstrebende Form wird gesteigert, da die vorgehängte Fassade eine vertikal strukturierte Gliederung erfährt. Das Abbild wird wie das Original eine goldgelbe Metallhaut mit bräunlich gefärbten Fenstern tragen.

Daß der Springer-Verlag sich auf rund 7.000 Quadratmeter neuer Bürofläche quasi selbst abbildet, entspricht der Selbstbespiegelung seiner verlegerischen Nachkriegsmoral: auf den Trümmern der alten Verlagshäuser entstand 1961/64 nach Plänen der Architekten Bega und Franzi/Sobotka und Müller in unmittelbarer Nachbarschaft zur Sektorengrenze die zwanziggeschossige Hochhausscheibe neben dem langrechteckigen Druckhaus. Ihre Formen und Funktionen avancierten weniger zum Sinnbild eines modernen Pressehauses als vielmehr zum Symbol und ideologischen Zeichen des Kalten Krieges. Axel Cäsar Springer: „Wir gehen in die Kochstraße mit der Idee, die heißt: Freiheit für alle Deutschen in einem geeinten Vaterland mit der rechtmäßigen Hauptstadt Berlin.“

Nicht die Geschichte des Ortes oder die zeitgenössische Architektur in erster Linie, sondern das ideologische Sinnbild interessiert auch heute den Bauherrn. Zudem ist vorgesehen, daß die Einheit von Redaktion und Produktion am Ort aufgegeben wird. Die alte denkmalgeschützte Rotationshalle soll abgerissen werden. Der Springer- Verlag baut derzeit für rund 550 Millionen Mark ein Druckzentrum in Spandau. Statt der Rotationshalle soll ein Mahnmal für die Maueropfer errichtet, das Areal zum „Gedenkort Springer“ werden.

Symbol der Ideologie

Die städtebauliche Konzeption des Projekts „Internationales Medienzentrum“ (IMZ) am Spittelmarkt soll den zerrissenen Stadtraum wieder als urbanen Ort erfahrbar machen und die Traditionen der Presse- und Verlagshäuser in der Friedrichstadt fortführen. Das Verlagshaus Hermann hatte an gleicher Stelle eine solche Nutzung begründet. Der Bertelsmann-Verlag möchte diese Tradition in „zeitgenössischer Form“ weiterführen. Doch der Planung stehen der historische Stadtgrundriß und das überlieferte Stadtbild eng zur Seite: das Projekt orientiert sich am Verlauf einstiger Straßen sowie an der traditionellen Form der Blöcke und Höfe. Das dreieckige Medienzentrum nimmt die historischen Baufluchten und Baulinien wieder auf und folgt in der Höhe der typischen Berliner Traufkante. Zur Platzseite ist eine Höhenstaffelung auf 13 Geschosse geplant.

Trotz seiner blockhaften Gestalt ist die Grundeinheit dieser „kritischen Rekonstruktion des historischen Stadtbildes“ die „klassische Parzelle“. Der Bau wird in schmale, mehrfach gebrochene Scheiben gegliedert. Sie sollen die Nutzung in kleinteiliger Dimension ermöglichen. Das Projekt soll den Impuls geben zur Belebung eines Straßenraumes wie er großstädtischen Zentren à la Times Square oder Piccadilly Circus eigen ist. Die zum Spittelmarkt ansteigenden Wände könnten Projektionsflächen großer Medienfassaden aufnehmen, die „Mischnutzung“ böte auf rund 55.000 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche Raum für Verlage, Zeitungsredaktionen, Film- und Rundfunkstudios, Galerien, Läden, Restaurants und Wohnungen – ein Mikrokosmos städtischer Dichte mit Öffnungszeiten rund um die Uhr.

Mosse-Haus wird rekonstruiert

Ebenso wie die stadträumliche Konzeption am Spittelmarkt nimmt die Idee für ein „Mosse- Zentrum“ an der Jerusalemer Straße den typischen Stadtraum und seine Maßstäblichkeit zum Vorbild. Die Überlegungen für ein neues Haus mit Studios, Räumen für Verlage und Druckereien belebten den traditionellen Ort, an dem bis 1933 das Berliner Tageblatt erschien, mit dem Mythos sowie einer Fortschreibung der Geschichte.

1872 gründete der Verleger Rudolf Mosse dort den Verlag, der die Jahre der Enteignung, Kriegszerstörung und Teilabrisse mit angekratzter Fassade überstand und seit DDR-Zeiten bis heute dem Druckhaus-Mitte Raum gibt. Mendelsohns schnittige Eckfassade, die die horizontalen Fensterbänder dynamisch über die Straßenkreuzung hebt, soll 1993 wieder rekonstruiert und danach neue Bauten an das existierende Gebäude angefügt werden.

Rund 400 Millionen Mark wird die Reurbanisierung des Areals auf dem einstigen Grenzstreifen kosten. Die Planung zitiert nicht nur ein städtebauliches Konzept, sondern auch ein architekturgeschichtliches. Das Projekt soll wie sein Vorbild Ausdruck gesteigerter Bewegung und Nervosität sein. Schwungvolle und kurvige Ecklösungen, lange Fensterbänder und schmale Einfassungen, Friese und aufgefächerte Geschoßenden verkörpern die Dynamik des Mediums. Es soll das bauliche Äquivalent der journalistischen Tätigkeit – des „rasenden Reporters“ oder der rotierenden Maschine werden.

Neuorientierung

In den Projekten „Mosse-Haus“ und „Medienzentrum“ zeichnen sich en miniature die Vorbilder lebendiger, großstädtischer Kommunikation und Information mit stadträumlicher, wirtschaftlicher und sozialer Qualität nach, die den Mythos „Zeitungs- und Medienstadt“ prägen.

Die neuen Projekte liegen am Beginn einer Neuorientierung (und keiner Wiederherstellung) der zum Fragment gewordenen Medien- und Zeitungsstadt Berlin, die recht artifiziell ihre Identität behauptete. Die Zeit der politischen Teilung hat das einst konzentrierte Zeitungsviertel und die alten Pressehäuser auseinandergerissen. In Ostberlin residiert die Berliner Zeitung am Alexanderplatz, das Neue Deutschland hat sein Verlagshaus in Friedrichshain. Die kleineren Blätter wie die Neue Zeit oder der Freitag begnügen sich mit unscheinbaren Standorten in anonymen Verwaltungsbauten. Die Westberliner Presse- und Medienlandschaft ist nicht weniger dezentral strukturiert.

In die polyzentrale „Medienstadt Berlin“ passen sich die neuen Presse- und Verlagsbauten ein als Ecksteine am Beginn eines neuen Medienzeitalters, das andere Nutzungen und Formen hervorbringen wird.

Das klassische Pressehaus- und Zeitungsviertel wird es aus Gründen der Ökonomie der Zeit und des Geldes nicht mehr geben. Dennoch sind verlegerische und architektonische Identität gefragt. Die kleine taz, moderne Hüterin der Tradition, entspricht noch der baulichen Reinform, quasi der „kritischen Rekonstruktion“ des Zeitungshauses – ganz im Gegensatz zum Presse-Saurier Springer – ist sie doch selbst komplex genug strukturiert.

Der neue Medienblock zwischen Kochstraße, Spittelmarkt, Schützenstraße und Friedrichstraße sollte darum zu einem Stück Stadt entwickelt werden mit eigener Qualität und metropolitaner Urbanität. Die geplanten Neubauten weisen schon in die Richtung kleinteiliger und differenzierter Mischung. Das entspricht nicht nur der Modernität des Produkts, seiner Herstellung und Bedeutung, sondern auch dem Fetisch Information.

Zugleich wird die architektonische und städtebauliche Bedeutung der Medienzentren neue große Formen, besondere Materialien und Konstruktionen verlangen, die die Funktionen und Inhalte der Häuser signalisieren als zeitgemäße öffentliche Gebäude im öffentlichen Raum. Videowände, schillernde Fassaden und Reklametafeln – die derzeit in der Diskussion befindlichen Accessoires der neuen Verlagsbauten, haben dabei den marginalen Part zu spielen.