Halbwertszeit des Wissens

■ Modellprojekt für mehr Qualifikation in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

Für Experten und Betroffene ist es längst keine Frage mehr: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) ohne fundierte Qualifizierung sind Geldverschwendung. „Reine Beschäftigungstherapie“, spottet man in der Szene der Sozialprojekte und bei Trägern über den üblichen Gang der Maßnahmen. Die Arbeitslosen werden ein bis zwei Jahre in der ABM aufbewahrt, ohne etwas dazuzulernen – und dann meist wieder in die Arbeitslosigkeit entlassen. Aus Gründen der reinen Marktlehre und weil Ausbildung anderswo zu leisten sei, beharrt die Bundesregierung auf dem allein beschäftigungspolitischen Charakter der AB-Maßnahmen. Sie sollen das individuelle Schicksal Arbeitsloser mildern. Seit 1991 geschieht dies in einem gigantischen Ausmaß: im währungsunierten und wiedervereinigten Deutschland wurden zeitweise 480.000 Arbeitslose per ABM von der Arbeitslosenstatistik wegretuschiert, 350.00 sind es derzeit allein in der ehemaligen DDR.

Ganze zehn Prozent beträgt der Zeitanteil, den Qualifizierung in AB-Maßnahmen üblicherweise ausmacht. „Sehr bescheiden, fast nichts“, nennt das Roland Golding. „Damit ist kaum eine abschlußbildende Qualifizierung möglich“, meint der Berater der nordrhein-westfälischen Beratungsgesellschaft örtlicher Beschäftigungsinitiativen (G.I.B.). Nordrhein-Westfalen zählt knapp 22.000 Arbeitslose, die in ABM befristet in Lohn und Brot stehen. Das Bundesland hat damit ein Drittel der ABMlerInnen des bundesrepublikanischen Westens – ohne freilich seinen Bestand von 200.000 Langzeitarbeitslosen perspektivisch abbauen zu können.

Seit 1990 läuft deshalb ein arbeitsmarktpolitisches Sonderprogramm in Nordrhein-Westfalen. Es will Beschäftigungsmaßnahmen und Qualifizierung so verknüpfen, daß der Bildungsanteil „zumindest die Hälfte der Projektdauer ausmachen muß“. 50 Prozent Qualifizierung, das erhöht die Attraktivität der Maßnahmen erheblich für die typische Klientel von ABM. „Bildungsentwöhnte Personengruppen“ heißen die im Sonderprogramm von NRW. Das sind Langzeitarbeitslose, „Jugendliche mit besonderen Vermittlungshemmnissen“ (meist fehlt ihnen eine abgeschlossene Berufsausbildung) und Frauen, die mehr als drei Jahre aus dem Job sind.

Einen Schritt weiter ist man in Hamburg, wo es ein Modellarbeitsamt gibt. Zu dessen Besonderheiten gehört, daß in AB-Maßnahmen ein zwanzigprozentiger Bildungsanteil die Regel ist. Außerdem hat die Hamburger Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales „zebra“ eingerichtet: das Zentrum zur beruflichen Qualifizierung. zebra hält Bildungsangebote für alle bezirklichen Beschäftigungsträger in der Hansestadt bereit. Das geht von Schnupperkursen, in denen die ABM-Jobber erst mal ihre Interessen und ihre Defizite erkennen sollen, über kaufmännische oder gewerblich-technische Weiterbildung bis hin zu den Bildungsfundamenten schlechthin: Lesen, Schreiben, Rechnen.

Das ist ein Zustand, der die Prognosen des Soziologen Ulrich Beck in den Schatten stellt. Noch Mitte der 80er Jahre war er in seinerRisikogesellschaft davon ausgegangen, daß der Hauptschulabschluß in der technisch fortgeschritten Industriegesellschaft ein modernes Analphabetentum darstelle. Bei struktureller Unterbeschäftigung und dem völligen Wegfall einfacher Arbeiten bedeute die erfolgreich beendete Hauptschule keinesfalls mehr eine Garantie für Lehrstellen. Inzwischen müßten die Bildungsträger also etwas leisten, was sie bislang noch nicht können: den oft jungen Arbeitslosen buchstäblich das ABC neu beibringen. In der täglichen Praxis der hamburgischen Bildungseinrichtung zebra sieht es etwa so aus, „daß viele erst wieder lernen müssen, wie man lernt. Häufig müssen so viele Kenntnisse aufgearbeitet werden“, meint die bei zebra beschäftigte Soziologin Andrea Pfenigstorf, „daß das nebenbei in der ABM nicht möglich ist.“ Die geringen Bildungsanteile halte sie „für unerträglich, wenn den Betroffenen der Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht werden soll.“

Die Rückkehr dorthin hält man in manchem Berliner Projekt inzwischen für eine Illusion. „Es gibt eine ganze Reihe von Gruppen, die ehrlicherweise nicht mehr auf den ersten Arbeitsmarkt gehen können“, meint Uwe Gluntz von Atlantis, einem halb wirtschaftlich, halb sozial orientierten Kreuzberger ABM-Betrieb. Dazu gehören Jugendliche, deren Biographie einen Knick bekommen hat. Aus sozialen und familiären Gründen, wegen Drogen oder der schlichten Weigerung, an der Leistungsgesellschaft teilzunehmen. Viele wollen gar keinen festen Job. „Wir müssen respektieren, daß die nur ihre Mark abreißen wollen“, sagt Matthias Roß vom KirchBauhof, einem weiteren Kreuzberger Projekt.

Einige der Jugendlichen kennt der Sozialpädagoge Roß aus anderen Jugendprojekten im Kiez. In der Branche nennen sie das den „Drehtüreffekt“: rein in die ein- bis zweijährige ABM. Der Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt mißlingt, etwa „wegen eines dummen Meisters, der nur rumkommandiert“. Was folgt, ist bestenfalls die Arbeitslosigkeit, oft genug Alkohol oder Drogen. Irgendwann steht die nächste Maßnahme an. Dem setzen KirchBauhof, Atlantis, ComboBau und 30 weitere in der „Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Ausbildung“ (A3) vereinigten Projekte den „sozialen Zusammenhang“ entgegen: gemeinsame Arbeit, Beschäftigung und immer auch verschiedenste Bildungselemente gehören dazu. Denn, so Matthias Roß: „Die Halbwertszeit von Qualifikation und Arbeitskraft beträgt heute ein halbes bis zwei Jahre.“ Christian Füller