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Geselliger Verteidiger der Freiheit

■ Der linksliberale US-amerikanische Theoretiker Walzer zur Politik der Differenz

Der Hunger nach Sinn wächst. Die Frage nach einer „guten Einrichtung“ unseres Zusammenlebens, die Zynikern gar nicht erst in den Sinn kommen will, darf daher mit großer Aufmerksamkeit rechnen. Zumal in Gesellschaften, die, so erklären uns Sozialwissenschaftler, derzeit einen „zweiten Individualisierungsschub“ erleben. Einen Atomisierungsprozeß des beschleunigten Zerfalls hergebrachter sozialer Muster und Institutionen, sei es in Familie, Arbeit oder dem Geschlechterverhältnis. Je mehr die Wüste wächst, desto drängender wird die Frage nach dem Kitt, der die zentrifugalen Kräfte dieser Gesellschaft noch zusammenhalten könnte: Sind solidarische Beziehungen unter Subjekten möglich, die sich zugleich in der radikalen Differenz ihrer Individualität wahrnehmen?

Die Möglichkeit des gesellschaftlichen Zusammenhalts unter den Bedingungen individueller Freiheit bleibt in der Tat die Frage – wie immer man die Antworten jener, die heute als Kommunitaristen bezeichnet werden, beurteilen mag: ob als vielversprechendes „Gemeinschaftsparadigma“ der lebensweltlichen Sinnstiftung oder als ein der Gegenaufklärung verdächtigtes Konzept der provinziellen Nestwärme oder gar anmaßenden Volksgemeinschaft.

Der Streit zwischen Universalismus und Kommunitarismus wird auf philosophischer Ebene um Letztbegründungen geführt: Gibt es kontextunabhängige, allgemein gültige, eben universalistische Prinzipien der Gerechtigkeit und Vernunft? Oder ist das jeweils Gute aus den Selbstverständigungsprozessen der konkret vorfindlichen Milieus und Gemeinschaften, eben kommunitaristisch, zu bestimmen? Ansätze, welche die Bedeutung der Gemeinschaft betonen, gehen stets mit einem mehr oder weniger stark ausgeprägten Relativismus einher. Das provoziert Gereiztheiten unter jenen, die in einer Welt der Gewißheitsverluste den Glauben an absolute Werte pflegen.

Michael Walzer, profilierter US-amerikanischer Theoretiker der liberalen Linken, wird gewöhnlich im Dunstkreis der Kommunitarismus-Debatte genannt. Sein sozialwissenschaftlicher Ansatz verbindet allerdings ein Minimum der Aufklärung, wie es uns in Gestalt von Selbstbestimmung und Menschenrechten geläufig ist, mit dem vehementen Plädoyer für eine Gesellschaft, die Vielfalt als ihren Reichtum begreifen lernt. Walzer ist spätestens seit der deutschen Ausgabe seines grundlegenden Werkes „Sphären der Gerechtigkeit“ hier kein Unbekannter mehr. Entfaltete er hierin eine bereichsbezogene politische Ethik von „Pluralismus und Gleichheit“, so argumentiert er in dem Essay- Band „Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie“ stärker politiktheoretisch.

Im Einleitungsessay wird der Liberalismus als die institutionelle Abgrenzung verschiedener sozialer Sphären wie Markt, Wissenschaft, Religion oder Familie analysiert. Die so errichteten „Mauern“ würdigt Walzer als freiheitsverbürgend und arbeitet heraus, daß jeder autoritären Politik die Tendenz innewohnt, diese Gliederung der Gesellschaft einzuebnen. Folglich dürfe eine gemeinschaftsbezogene, das Partikulare betonende Theorie nicht hinter jene „Kunst der Trennung“ zurückfallen, sondern müsse diese, im Bereich der Wirtschaft etwa, um genossenschaftliche Elemente erweitern. Bereits hier zeigt sich, daß Walzer in das grobe Schema Liberalismus versus Kommunitarismus nicht hineinpaßt.

Ein Leitmotiv seiner Gesellschaftskritik ist die Frage, wie ein tragfähiges Netzwerk zu knüpfen sei, in dem sich eine demokratische Öffentlichkeit sozialer Verantwortung stabilisieren könnte: Jene vielfach ausdifferenzierte Zivilgesellschaft also, die das Muster für die Koexistenz verschiedener Formen der Integration abgibt. Walzers Überlegungen unter dem Titel „Staaten und Minderheiten“ weisen ihn einmal mehr als menschenfreundlichen Pragmatiker aus, dessen politische Theorie sich darüber nicht ins Prinzipienlose verliert. Der Nationalstaat hat die homogenisierende Tendenz, alle Mitglieder einer einzigen Gruppe zu einer einheitlichen politischen Struktur exklusiv zusammenzufassen. Unter demokratischen Bedingungen ist damit immerhin das Angebot an die Minderheiten verbunden, sich zu assimilieren. Dies kann aber nur dann liberal und demokratisch genannt werden, wenn daneben eine zweite Option garantiert wird: die Existenz einer respektierten Minderheit bei gleichzeitiger Garantie der vollen staatsbürgerlichen Rechte. Wird den Minderheiten „wie den Metöken im antiken Athen oder den ,Gastarbeitern‘ im heutigen Europa“ die Staatsbürgerschaft verweigert, so liefen diese Gefahr, betont Walzer, „der Tyrannei der Mehrheit“ ausgeliefert zu sein.

Seine anschaulichen Analysen der amerikanischen Demokratie vermessen realistisch die Möglichkeiten und Grenzen der Integration ethnischer und religiöser Sonderkulturen. Dabei werden auch die Unterschiede herausgearbeitet, die zwischen den europäischen Nationalstaaten und dem klassischen Einwanderungsland USA bestehen. Staaten mit einer überwiegend homogenen Mehrheitskultur entwickeln stärkere Widerstände gegen eigenständige Minderheiten. Ein Einwanderungsland, in dem alle das anfängliche Schicksal der Entwurzelung teilen, vermag dagegen unter dem Dach einer einheitlichen nationalen Politik seine Pluralität leichter zu verfassen. Die deutsche Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft findet von daher in Walzer einen kritischen Verbündeten.

Michael Walzers „Politik der Differenz“ atmet den erfrischenden Geist eines undogmatischen, liberalen Linken. Er argumentiert politisch aufgeklärt und blendet weder die soziale Frage noch andere Konfliktstoffe der spätkapitalistischen Gesellschaften aus. Sein unbedingter Wille zur Vielfalt verliert sich bei aller Offenheit nicht im Unverbindlichen, weil seine Fixsterne Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte bleiben. So kommt er im Ergebnis dem Pluralismuskonzept der Neuen Frankfurter Diskursethik recht nahe. Walzers gesellige Verteidigung der Freiheit wird auch dann noch von Bedeutung sein, wenn die Konjunktur in Sachen Kommunitarismus längst passé ist und die Zeitgeistritter einem neuen Paradigma nachjagen. Horst Meier

Michael Walzer: „Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie“. Aus dem Amerikanischen von Christiane Goldmann. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Otto Kallscheuer, Rotbuch Verlag, 1992, 266 S., 38 DM

Bei Rotbuch erschien auch: Christel Zahlmann (Hrsg.): „Kommunitarismus in der Diskussion“, 1992, 153 S., 32 DM

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