In Isikli sterben die Habichte

In dem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste lagern 14.000 Tonnen verstrahlten Tees  ■ Von Ömer Erzeren

Die sattgrünen Teefelder ziehen sich an den Hängen empor. Die Spitzen der Berge sind schneebedeckt. Die Geräuschkulisse ist das Rauschen eines kleinen Baches, der wenige hundert Meter weiter in das Schwarze Meer mündet. In diesem Tal steht das umzäunte Objekt, dem die Bauern des Dorfes Isikli, unweit der georgischen Grenze, den Kampf angesagt haben. Die „Höhle des Ungeheuers“ kam nach der AKW-Katastrophe in Tschernobyl in das 1.500-Seelen-Dorf. Seit 1987 lagern hier in dem Depot des staatlichen Teekonzerns Cay-Kur über 14.000 Tonnen hochgradig radioaktiv verseuchten Tees. Der Wächter zieht an seiner Gebetskette und staunt über die Besucher. „Das Schicksal Gottes: Wenn es Radioaktivität gibt, ist mein Körper voll davon.“

Im Nu hat sich eine Gruppe von Dorfbewohnern um das Einfahrtstor versammelt. „Ist es nicht schade um diesen armen Mann“, schimpft der 32jährige Enis Eskicirak, der beim Bau der Lagerhallen gearbeitet hat. Im Winter 1986 haben Arbeiter den radioaktiv verseuchten Tee in den Hallen eingelagert. Schon damals hat es Proteste gegeben. Die Frauen und Kinder blockierten die Brücke, um die mit dem Tee beladenen Lastkraftwagen an der Zufahrt zu hindern. Genützt hat es nichts. Zum Schluß wurde Gendarmerie ins Dorf geschickt, um die von der Regierung verfügte „ordnungsgemäße Entsorgung“ zu sichern.

Nach der Tschernobyl-Katastrophe haben die türkischen Politiker und der staatliche Teekonzern die eigene Bevölkerung belogen. Der Putschistengeneral und damalige Staatspräsident Kenan Evren und der Ministerpräsident Turgut Özal postierten sich Tee trinkend vor Fernsehkameras, um die Ungefährlichkeit türkischen Tees zu demonstrieren. Um den Verkauf zu sichern, druckte der Teekonzern das Herstellungsjahr 1985 auf Packungen mit der 86er Ernte.

Unter radioaktiv verseuchten Regenwolken ernteten damals Frauen an der Schwarzmeerküste den Tee. Erst Monate später wurden Maßnahmen ergriffen. Zumindest ein Teil des nicht konsumierten radioaktiv verseuchten Tees – Werte von 89.000 Becquerel pro Kilo wurden festgestellt, über das Hundertfache dessen, was laut der Weltgesundheitsorganisation der UNO zulässig ist – sollte gelagert werden. Was lag näher, als das Lager dort zu errichten, wo der Tee auch geerntet und verarbeitet wird. Das Lager Isikli, ursprünglich gedacht als Teeverarbeitungsfabrik, entstand.

„Wir können nicht weg von hier“

„Wir leben hier, wir können nicht weg von hier“, flucht der 48jährige Hasan Gültekin. Wie alle Erwachsenen des Dorfes hängt seine Existenz von dem Tee ab. Kleinbauern, die wenige Hektar Tee anbauen, sind die Regel. Die Landlosen werden nach der Ernte vom Teekonzern als Saisonarbeiter in den Teefabriken angestellt. Gültekin hat hier auch Tee eingelagert: „14.000 Tonnen sind durch meine Hände gegangen.“ Heute ist er überzeugt, daß Politiker immer lügen. „Ich glaube, damals im Fernsehen haben sie Import-Tee aus Indien getrunken.“

Der Dorfvorsteher von Isikli, Tahsin Yeniay, hat ein Schreiben vom Gouverneur erhalten. Der Tee soll aus den Lagerhallen herausgeholt und eingegraben werden. „Der Bach fließt unmittelbar an dem Gelände vorbei. Wird sich die Radioaktivität nicht ins Wasser mischen? Was wird aus der Fischerei? Was aus unseren Kindern, die an der Mündung des Baches im Meer baden gehen?“ fragt er. Ein Bauer mischt sich ins Gespräch. „Man sollte das ganze Zeug nach Ankara transportieren und vor dem Parlament abladen.“

Tschernobyl ist in Isikli nicht nur in Gestalt des Lagers präsent. Tschernobyl ist ein Gespenst geworden, das durch die Familien wandelt. Hinter vorgehaltener Hand erzählen Bauern über Fehl- und Mißgeburten, die nach 1986 gang und gäbe geworden seien. Die Menschen in Isikli sind streng gläubig. Offen reden sie nicht über so etwas.

Die jungen Frauen und Männer des „Volkshauses“, einer Art Bürgerinitiative, in der benachbarten Provinzstadt Ardesen haben Ungeheures geleistet. In der 17.000 Einwohner zählenden Kleinstadt haben sie 670 Personen über Todesfälle, Todesursachen und Geburten befragt. 69 Totgeburten und 24 Krankgeburten sind namentlich aufgeführt. Zum Beispiel Gülsen Yaniklar, die vor 1986 zwei gesunde Kinder geboren hat. Ihre drei Schwangerschaften nach 1986 endeten stets mit Frühgeburten, die zum Tod der Kinder führten. Es folgt die Auflistung von 80 Krebstoten und 33 Krebskranken, deren Symptome allesamt nach 1986 auftraten.

Der junge Chemiker Üzeyir Atmaci hat die Befragung initiiert. Er erinnert daran, daß der einstige Chef der türkischen Atomenergiebehörde sich heute dazu bekennt, Meßergebnisse verheimlicht zu haben, um „Panik zu verhindern“. „Was versteht schon das dumme Volk von Radioaktivität“, hat der einstige Atomchef Ahmet Yüksel Özemre gesagt. „Sie haben die Bevölkerung wissentlich verseucht“, sagt Chemiker Atmaci. „Wir wollen endlich die Wahrheit wissen.“

Ein dicker Mann in der Runde hat genug von ausgewogenem, politwissenschaftlichem Gespräch. Der Metzger Ali Bakoglu schreit fast: „Sie lügen. Verflucht sie. Sollen sie doch in die Krankenhäuser gehen. Unter der Haut meiner 6jährigen Tochter Aysun sind Blutflecken. Der Arzt sagt, es könne sich um Leukämie handeln. Meine Schwägerin hat abgetrieben, nachdem sie das Ergebnis ihrer Ultraschalluntersuchung in Händen hielt. Sie sagen, wir sollen nicht in Panik geraten. Sie machen sich lustig über uns.“

Das kleine Arztzimmer im Krankenhaus von Ardesen, in das sich Mitglieder des Volkshauses, ein paar Ärzte und der Leiter der Gesundheitsbehörde gedrängt haben, ist Ort einer wichtigen Begegnung. Die Gesundheitsbehörde hat das Treffen möglich gemacht. Nach den jüngsten Skandalberichten in der türkischen Presse über die Vertuschung der Folgen von Tschernobyl hat der zuständige Minister Gesundheitskontrollen und eine wissenschaftliche Auswertung zugesagt. Bürger sollen den Repräsentanten des Staates, den Landrat, treffen. Doch Landrat Bestami Alkan, dem die Mappe mit den Todes- und Krankheitsfällen und Fehlgeburten überreicht wird, ist recht desinteressiert.

„Kein Grund zur Panik. Schweden hat mehr abgekriegt.“ Der Tee im Lager von Isikli werde entweder verbrannt oder vergraben werden. „Der Staat hat alles im Griff.“ Als einer der Jugendlichen auf Gefahren bei der Verbrennung hinweist, wird der Herr Landrat unwirsch: „Bist du eine Autorität, daß du dich hier aufspielst?“

Autoritäten diskutieren nicht, sie handeln. Wie das Problem radioaktiv verseuchten Tees gelöst wird, mußte der Bürgermeister von Ardesen, Nazmi Alcin, vor einem Jahr erfahren. Vor der Teefabrik in Ardesen rissen des Mitternachts Bagger die Erde auf. Klammheimlich sollte Tee auf dem sandigen, wasserdurchlässigen Grund vergraben werden. Der Bürgermeister versuchte, es zu verhindern. Doch am dritten Tag hatten die Akteure der Nacht-und- Nebel-Aktion ihre Arbeit beendet. Nach Tschernobyl brannten – aus welchem Grund auch immer – des öfteren Teebestände ab. Die Asche wurde in der Gegend verstreut.

„Der Tee und Tschernobyl bestimmen alles“

Das Kaffehaus in Isikli ist voll. Die Männer zocken auf den verdreckten, roten Decken der Tische. Ein Ofen in der Mitte des Raumes spendet Wärme. Ein Fernseher läuft. Immer wieder setzen sich Männer an den Tisch, um über das Lager und die Politiker zu fluchen. Der Tee und Tschernobyl scheinen hier alles zu bestimmen. „Damals, in den fünfziger Jahren, als der Teeanbau begann, konnten wir für ein Kilo Tee ein Kilo Oliven kaufen. Heute kosten Oliven das Zwölffache vom Tee“, klagt der Dorfvorsteher. Die Tee-Monokultur hat das ökologische Gleichgewicht zerstört. „Früher gab es hier viele Obstbäume – Quitten, Feigen, Mandarinen. Der Chemiedünger hat alles kaputtgemacht.“

„Wir werden vom Unheil verfolgt“, sagt einer der alten Männer. „Der Tee hat uns geknechtet. Dann kam Tschernobyl. In Armenien steht noch so ein Katastrophen-AKW. Wenn etwas passiert, wird erneut alles bei uns runterregnen.“ Doch nicht Rebellion, sondern lethargische Schicksalsergebenheit bestimmt die Gesprächsrunde. „Was können wir schon tun. Wir sind Lasen. Wir können noch nicht einmal richtig Türkisch.“

Nur einmal kommt Erregung und Spannung in die Kaffeerunde. Ein gezähmter Habicht wird vorgeführt. Die Runde der erwachsenen Männer freut sich wie eine Kinderbande. „Die Zähmung von Habichten ist der Sport unserer lasischen Urgroßväter“, prahlt ein Mann. Wer keinen Habicht fangen und zähmen kann, gilt hier nicht als richtiger Mann. Doch die anonymen Gewalten lassen den Männern von Isikli nicht einmal mehr ihre Geschichte. „Seit einigen Jahren ist es schwer geworden. Die Habichte sind nicht mehr durchhaltefähig. Sie sterben weg wie die Fliegen.“