Wer soll das bezahlen?

Der Erhalt der industriellen Kerne soll den Niedergang der Ost-Wirtschaft stoppen/ Doch welche Firma soll mit wieviel Geld erhalten werden?  ■ Von Erwin Single

Sogar Oskar Lafontaine platzte der Kragen. „Das ist keine Industriepolitik“, wetterte der saarländische Ministerpräsident, „sondern Sozialpolitik, und das muß man auch ganz offen sagen.“ Was den im Umgang mit zahlreichen Stahl- und Bergbaukrisen im eigenen Land erfahrenen SPD-Vize so in Rage versetzte, war eine Verabredung zum Erhalt von Arbeitsplätzen in Ostdeutschland. Kurz vor der Jahreswende hatten nämlich die Beschäftigten des Magdeburger Schwermaschinenbauunternehmens Sket, unterstützt von Lokalpolitikern und Landesfürsten, die Kapitulation ihres Chefs Karl-Wilhelm Marx erzwungen. Der Manager aus dem Westen war angetreten, die Restbelegschaft des ehemaligen Ernst-Thälmann- Kombinats bis Ende 1995 auf 1.000 Mitarbeiter herunterzufahren.

Das jedoch war für die stolzen Thälmann-Werker zuviel. Sie befürchteten, daß Sket zum völlig bedeutungslosen Skelett demontiert und der Maschinenbaustandort Magdeburg bald von der Landkarte verschwinden würde. Statt der 2.600 Arbeitspätze werden jetzt nur rund 900 gestrichen; die Treuhand läßt sich, gegen ihren Willen, nun jeden der Arbeitsplätze 100.000 Mark kosten. An der miserablen wirtschaftlichen Situation des Unternehmens, das seine Draht- und Verseilmaschinen, Kräne, Brecher und Speiseölproduktionsanlagen wie Sauerbier anbietet, hat sich dadurch nichts geändert. Für die geringe Auftragsdecke, das wissen selbst die Betriebsräte, ist der Laden nach wie vor viel zu groß.

Doch das Beispiel Sket dürfte Schule machen. Noch immer kämpfen knapp 1.500 Treuhand- Betriebe, mit zusammen 300.000 Beschäftigten, ums nackte Überleben. Darunter sind die großen Kombinatsreste der Chemieindustrie, des Maschinen- und Anlagenbaus, der Elektrotechnik und des Schienenfahrzeugbaus. An diesen Kernen hängen rund eine Million weiterer Arbeitsplätze bei den Zulieferern, im Handel, Handwerk und Dienstleistungsgewerbe. Werden die Firmen geschlossen, droht Hunderttausenden die Arbeitslosigkeit. Je weiter die Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern fortschreitet, desto lauter wird nach einer staatlichen Industriepolitik gerufen. „Adam Smith“, brachte Bahn-Chef Heinz Dürr bei der Leipziger Treuhand- Messe die Misere auf den Punkt, „ist in Ostdeutschland total überfordert.“

Nun soll der Staat den vollständigen Zusammenbruch der Ost-Industrie verhindern und die unverkäuflichen Überbleibsel der Treuhand-Kombinate mit öffentlichen Mitteln über Wasser halten. Selbst beim Kanzler blieben die Klagen von Gewerkschaftern und ostdeutschen Politikern nicht ohne Gehör– er stellte die „industriellen Kerne“, also so gut wie alles, was bisher noch nicht privatisiert werden konnte, unter seinen persönlichen Schutz. Man werde die Reste der DDR-Industrie „nicht absaufen lassen“, versprach Helmut Kohl im Dezember bei seinem Halle-Besuch den Ostdeutschen, sein Konzept laute „Arbeit statt Arbeitslosigkeit“. Gemeinsam mit dem früheren Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) und dem Bundeskassenwart Theo Waigel (CSU) wurde der Kurswechsel flugs in einem neunseitigen Positionspapier festgehalten. Die Sanierung unrentabler Staatsbetriebe, heißt es dort, sei nun strategisches Ziel der Regierung – für aufrechte Marktwirtschaftler ein Weg des Grauens.

Gegen die Sanierungslinie gibt es angesichts des ostdeutschen Krisengebiets kaum noch Widerstand. Auch die der Privatwirtschaft stets zugeneigten Liberalen scheinen die Maxime ihres ersten Einheits- Wirtschaftsministers Helmut Haussmann längst vergessen zu haben, daß Antworten nur der Markt geben könne. Und selbst die Treuhand ordnet sich, wenn auch widerwillig, in die Reihen der Industriepolitiker ein.

Doch wie der Staat eingreifen soll, darüber scheiden sich die Geister. Niemand besitzt ein schlüssiges Konzept, wie die industriellen Kerne erhalten werden können. Hatte die IG Metall vom Kanzler als Bedingung für eine Beteiligung am Solidarpakt noch pauschal eine Bestandsgarantie und Entlassungsverbote für die restlichen Treuhand-Unternehmen verlangt, warnen Wirtschaftsexperten vor neuen Erhaltungssubventionen für die Kombinatsleichen. Die Überreste künstlich am Leben zu halten, prophezeite der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Herbert Hax, schaffe nichts anderes als „faule Kerne“. Und Horst Siebert, Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, befürchtet gar, daß die teure Zeche für die „staatliche Aufrechterhaltungspolitik“ den Schuldenberg der Treuhand auf gut und gerne 500 Milliarden Mark hochtreiben wird. Falls sich die Politik für den Erhalt der großen Unternehmen entscheide, schrieb das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in seinen Oktober-Bericht, werde es „in jedem Fall sehr teuer“.

Aus den Reihen der Regierung und Opposition tönt es zwar, die Sanierungshilfen seien zur Anschubfinanzierung gedacht und dürften nicht zu einer Daueralimentierung maroder Staatskolosse führen: Die Betriebe müßten nach der erfolgten Sanierung zügig privatisiert werden. Doch gerade hier liegt der Haken: Ob die großzügigen Finanzspritzen bei allen Kombinatsrümpfen tatsächlich weiterhelfen, ist mehr als fraglich. Das Eisenhüttenstädter Stahlwerk Eko beispielsweise benötigt dringend eine Warmbreitbandstraße. Kostenpunkt: rund eine Milliarde Mark – angesichts der gigantischen Stahlüberkapazitäten in Deutschland eine Summe, die sich wohl kaum auszahlen wird. Noch schlimmer sieht es für die maroden Chemiegiganten in Buna, Leuna und Bitterfeld aus. Die Region ist versaut, die Betriebe sind alt, die Kapazitäten werden nicht gebraucht. Geld allein schafft weder neue Märkte noch neue Produkte; scheitert aber das Vorhaben, hängen die Firmen ewig am Tropf.

Beim DIW ist man daher äußerst skeptisch. Daß sich altindustrielle Kerne in Krisenregionen selbst mit noch so viel Zuschüssen auf Dauer nicht am Leben erhalten lassen, hätten schließlich die Beispiele Manchester, Elsaß-Lothringen oder das Ruhrgebiet gezeigt. Davon kann auch Oskar Lafontaine ein Lied singen. Für den Sonderbeauftragten der Sozialdemokraten in Sachen Solidarpakt und Aufschwung Ost steht fest, daß man in Ostdeutschland etwas ganz Neues machen muß, um zukünftig wettbewerbsfähig zu werden. Selbst Franz Steinkühler versuchte, die unrealistischen Erwartungen der ostdeutschen Gewerkschafter zu dämpfen: Auch neue volkseigene Betriebe bräuchten zum Überleben Aufträge, so der IG-Metall-Vorsitzende auf dem letzten Gewerkschaftstag, „soll ich denn das Konkurs-ABC wiederholen?“ Und wenn es nach McKinsey-Chef Herbert Henzler geht, haben ohnehin nur zwei Ost-Firmen Aussicht auf einen Sanierungserfolg: Die Deutsche Waggonbau, Europas größter Eisenbahnwagenhersteller, der bereits heute schwarze Zahlen schreibt, und die halbprivatisierte Raffinerie und Petrochemie in Leuna.

Indessen droht bereits dem Versuch, die noch namenlosen industriellen Kerne zu bestimmen, dasselbe Schicksal wie dem Solidarpakt – nämlich im Gezerre um Einfluß und Subventionen zwischen den Gruppeninteressen zerrieben zu werden. Von den noch rund 2.700 verbliebenen Firmen plagen die Treuhänder vor allem die Problemfälle: 76 Betriebe, alle mit mehr als 1.000 Beschäftigten und/ oder Verlusten über 20 Millionen Mark, hat sie in einer Liste der „Schlüsselunternehmen“ gesammelt. Die Treuhand, verkündete deren Chefin Birgit Breuel, wolle ihren Kurs weiterhin beibehalten – was ausschließt, daß jeder Betrieb um jeden Preis erhalten wird.

Das will den Ost-Ländern jedoch gar nicht schmecken, dort halten nicht nur die regierenden Politiker inzwischen fast jedes Unternehmen für sanierungswürdig. Dennoch sollen ausgerechnet die Landesregierungen die Industriekerne benennen, denn die Auswahl sei schließlich eine politische Entscheidung, sagt Treuhand-Präsidentin Breuel. Die Landesregierungen lassen sich das freilich nicht zweimal sagen. So hat beispielsweise Sachsen bereits im Herbst letzten Jahres 16 Treuhand-Unternehmen aufgelistet und zur Sanierung angemeldet, darunter den Chemnitzer Werkzeugmaschinenhersteller Heckert oder die Halbmond-Teppichwerke in Oelsnitz.

„Atlas“ heißt das Modell, bei dem die Betriebe von der Treuhand saniert und vom Land mit Fördermitteln aus der „Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ begleitet werden sollen. Nun werden, von unten nach oben, kräftig weitere Firmen nachgeschoben; für Kommunalpolitiker ist inzwischen jeder noch so kleine Industriebetrieb strukturbestimmend, weil es sonst meilenweit nur Handel und Dienstleistungen gibt. Für die größeren Unternehmen soll nach Einzellösungen gesucht, kleinere Firmen sollen in Branchen- und Spartenholdings, sogenannten Management-KGs, zusammengefaßt und auf den Markt getrimmt werden – ein Plan, der in der Treuhand spöttisch „DDR II“ genannt wird.

Daß aber bald etwas geschehen muß, zeigt die amtliche Statistik: Die industrielle Produktion ist seit der Währungsunion im Sommer 1990 auf unter ein Drittel abgesackt, die Produktivität liegt bei einem Drittel der Westdeutschlands, und die Zahl der Industriearbeitsplätze hat sich von 3,6 Millionen auf weniger als 750.000 reduziert, die staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen nicht eingerechnet. Im Herbst 1992 waren in Ostdeutschland je 1.000 Einwohner nur noch 55 Industriearbeitsplätze besetzt– das sind nicht einmal mehr halb so viele wie im Westen.

Als Hauptschuldigen für den Kahlschlag haben Gewerkschaften, Opposition und die Ost-Politiker der Regierungskoalition längst die Treuhandanstalt ausgemacht: Die Sanierung komme für die Unternehmen viel zu spät; die Privatisierungsbehörde habe sich faktisch so gut wie nicht darum gekümmert; tragfähige Konzepte seien immer dann schnell verschwunden, wenn Kaufinteressenten auf der Matte standen. Sie erhalten dabei Rückendeckung von den Wissenschaftlern: Laut Institut für Wirtschaftsforschung Halle betrugen die Investitionen der Treuhand in den von ihr verwalteten Betrieben pro Arbeitsplatz knapp 4.000 Mark – gerade ein Drittel der Summe, die von den Käufern in privatisierte Firmen gesteckt wurde. Allein 25 Milliarden Mark, widersprach Treuhand-Vize Hero Brahms vor dem Wirtschaftsausschuß des Bundestags, habe die Mega-Behörde im letzten Jahr an Sanierungsmitteln in die Unternehmen gepumpt. Zudem seien für Regional-, Struktur- und Industriepolitik die Länder selbst verantwortlich. Doch keinesfalls alle Wirtschaftsminister im Osten haben wie Brandenburgs Walter Hirche kapiert, daß Industriepolitik nur dann Sinn macht, wenn man über Alternativen an einem Standort nachdenkt.

Daß es schon immer etwas teurer war, sich einen besonderen Wunsch zu erfüllen, ist auch den Landesherren nicht verborgen geblieben. Birgit Breuel machte ihnen und den Bonner Koalitionären klar, was der Erhalt der industriellen Kerne letztendlich bedeutet: „Wer Sanierung fordert“, so die Behördenchefin, „darf nicht in Ohnmacht fallen, wenn er die Zahlen sieht.“ Wenn es aber ans Bezahlen geht, fehlt allen das nötige Kleingeld. Die neuen Länder, die ohnehin unter Geldmangel leiden, erteilten einer von Finanzminister Theo Waigel und dem Treuhand- Präsidium geforderten Landesbeteiligung an den Treuhand-Unternehmen sofort eine glatte Absage. Thüringen ist zunächst nicht einmal bereit, Landesfördermittel für Treuhand-Betriebe locker zu machen – das Land will erst einmal die Ergebnisse des Solidarpakts abwarten. Für die Berliner Privatisierungsbehörde ist dies keine Lösung. „Die Treuhandanstalt“, konterte deren Präsidentin, „ist nicht die Ersatzkasse der Wiedervereinigung.“

Also soll das Kuckucksei am besten gleich als Industrieholding Ost dem Bundesfinanzminister untergeschoben werden – das unternehmerische Risiko tragen ja ohnehin die Steuerzahler. 95 Prozent der Deutschland AG, so die Planspiele, soll der Bund zeichnen, der Rest wird den Banken angedient. Noch will der Finanzminister das mühsame Geschäft der Treuhänder nicht fortführen.

Doch viel Zeit bleibt ihm nicht: Im Sommer muß er dem Treuhand-Ausschuß sein Konzept für die Zukunft der ostdeutschen Staatsbetriebe auf den Tisch legen. Doch wer Theo Waigel kennt, weiß, daß noch etwas ganz anderes möglich ist – nämlich die Probleme weiter aufzuschieben und den Treuhand-Auftrag zu verlängern. In den Wirtschaftsministerien im Osten allerdings steht jetzt schon fest: „Waigel ist das größte Investitionshindernis.“