„Zurück zu den Ursachen des Schmerzes“

■ Christian Semler sprach mit dem Regisseur von „Arizona Dream“, Emir Kustorica

taz: Herr Kustorica, Sie haben stets den autobiographischen Charakter Ihrer Filme betont, selbst wenn die Fabel nicht Ihrer Lebensgeschichte entstammte. Spiegelt nicht auch „Arizona Dream“ – gerade in seinen phantastischen Elementen – Ihre Biographie wider, und sind es ihre Träume bzw. Alpträume, die wir sehen?

Emir Kustorica:Dieser Film ist eine Autobiographie meiner Träume, er stammt aus meinen Träumen. Wenn Sie im Film mit Träumen umgehen, gibt es die große Gefahr, in eine Falle zu geraten. Sie besteht darin, daß Sie ihre Träume in ein psychoanalytisches Schema pressen. Sie verfangen sich, weil Sie bei der Darstellung der Träume als Traumdeuter auftreten. Ich selbst bin mit meinen Träumen umgegangen wie ein Maler, der an einem gegenstandslosen Werk mit Farben experimentiert. Träume und ihre Darstellung stellen eine besondere Form der Beziehung zwischen Künstler und Publikum her, unabhängig von Zeit und Raum. Sie sind der beste Spiegel, um den menschlichen Geist zu reflektieren.

Sie sagten, Sie hätten mit diesem Film bei einem Nullpunkt angefangen. Was meinen Sie damit?

Wenn früher in Sarajewo jemand seine Jacke verkehrt zuknöpfte, wußte ich, warum. Wenn er weinte, wenn er lachte, wußte ich auch, warum. Ich wußte alles über diese Stadt. Das Leben in den USA vom Anfang an neu entdecken zu müssen, war meine Null- Punkt-Situation. Aber ich muß sagen, daß ich bei jedem Film von vorne anfangen muß. Vielleicht kommt meine Energie aus dem Zwang, den Nordpol zum x-ten Mal wiederentdecken zu müssen.

Waren für Sie die USA ein Traum, vermittelt durch Filme, und wie hat dieser Traum sich verändert, als Sie mit der Wirklichkeit konfrontiert wurden?

Amerika bestand für mich früher aus lauter Metaphern. Die Autos, die Filme etc. Dann, als ich dort war, entdeckte ich eine Wirklichkeit mit höchst realen Spielregeln. Ich war nicht enttäuscht, es war nur so, als ob ich in verschiedenen Büchern lesen würde. Die Welt der Filme und, sagen wir, die Welt Raymond Carvers, diese harte Welt, in der es – unglaublich aber wahr – unglückliche Menschen gibt. Ich selbst, mit meinen Illusionen, Fehlern, falschen Emotionen gegenüber diesem gewaltigen Land, wurde mir zum Schauplatz, wurde mein eigenes Genre.

Wie haben Sie denn auf diese Entdeckung reagiert?

Ich habe mich auf sicherem Gebiet bewegt, weil ich nicht versucht habe, den amerikanischen Traum zu analysieren. Ich hätte sagen können, daß er eine sehr erfolgreiche Ideologie ist, ein Traumbild, das man über eine miese Realität stülpt etc. Was mich übrigens an dieser Ideologie wirklich beunruhigt, ist, daß sie dem Dollar eine moralische Qualität zuspricht. Die Leute glauben, selbst 1 Dollar stelle eine moralische Größe dar. Die USA sind wirklich ein surrealistisches Land – und ein kitschiges.

Gibt es eine Wiederkehr des Mythischen, ein Bedürfnis danach, das von den Ideologen ausgeschlachtet wird? Ich denke an den Nationalismus als „künstlichem“ Mythos, denke an Jugoslawien...

Ich glaube, wir sollten hier zwei Dinge voneinander trennen: die Mythen, die in das Alltagsleben hineinreichen und die in Jugoslawien nie aufgehört haben, zu existierten, und die Welle des Chauvionismus und Nationalismus, die allerdings auch nicht nur ein Produkt der letzten drei Jahre ist. Die Mythen der heidnischen, ländlichen Welt in Jugoslawien sind etwas wunderbares. Sie stammen aus einer Haltung, die das Leben und seine Wurzeln akzeptiert. Sie können wunderbaren Geschichten zuhören, die nicht von dieser Welt scheinen. Sie brauchen den Mythos, ich brauche ihn, um ihn im Kunstwerk zu exponieren. Das kann in kritischer Weise geschehen in lustiger oder wie auch immer. Die lateinamerikanische Literatur ist für mich so aufregend, weil sich das alles in ihr tut.

Ich brauche Mythen für mich selbst, für meine eigene Welt. Meine ersten beiden Filme drehten sich um meinen Mythos der Stadt Sarajewo. Wenn jemand später diese Stadt und ihr Universum rekonstruieren will, werden ihm vielleicht diese Filme von Nutzen sein – und ein paar Romane, die in diesen vier Jahrzehnten geschrieben wurden. Dann wird sich zweigen, wer „antibosnisch“ ist. Ich, oder diejenigen, die mich als Verräter meiner Heimat anklagen.

Wer tut das?

Als Jugoslawien sich von einem kommunistischen zu einem demokratischen (oder sagen wir besser hypothetisch-demokratischen) Land wandelte, haben viele Politiker, viele Journalisten über Nacht das Hemd gewechselt. Früher 100 Prozent Kommunisten, jetzt 100 Prozent Nationalisten. Noch immer funktionieren die Ausschlußmechanismen. Wehe, Du bist nicht nationalistisch genug, wie ich besipielsweise. Dann ist keine Geschichte schmutzig genug, um nicht über Dich verbreitet zu werden.

Wenn jemand einen Feind aus mir machen will, bin ich bestimmt besser geeignet als jeder andere. Ich kann mich nicht so über Nacht ändern. Einige Leute in Sarajewo haben diese Eindeutigkeit, diese neue Identität angenommen, es hilft, ihr Leben unter den extremen Bedingungen zu organisieren. Es hilft, zu überleben. Aber ich kann es nicht. Es ist mir unmöglich und es wäre würdelos.

Solche Schwierigkeiten zu haben und ein Loblied auf Slobodan Milosevic anzustimmen, sind zwei Paar Stiefel. Stimmt es, daß Sie ihn in Belgrad als ehrlichen Menschen und bedeutenden Staatsmann gefeiert haben?

Das ist eine dieser bodenlosen Behauptungen. Ich habe 1989 ein langes Interview gegeben, in dem ich sagte, daß der Nationalismus von Slowenien und Kroatien rasch auf Serbien übergreifen würde. Ich schlug damals vor, das auf seine Tauglichkeit zu überprüfen, was Tito uns allen hinterlassen hat. Das wäre beser, als Milosevic einen Schurken zu nennen.

Ich spreche nicht von diesem Interview, sondern von einer Rede, die sie anläßlich einer Preisverleihung 1990 gehalten haben...

Auch dort habe ich nichts dergleichen gesagt. Wie käme ich je dazu, meinen Namen mit einem dieser Politiker zu verbinden?

Sie haben in der A-Jugend Sarajewos gespielt, aus der einige Fußball-Nationalspieler hervorgingen. Fühlten Sie damals „jugoslawisch“?

Oh ja, es ging um starke Emotionen. Heute sind sie vielleicht zerstört. Ich bin es so leid, über Jugoslawien zu sprechen, ich werde krank davon. Aber es ist notwendig. Wenn Du Dich selbst analysierst, mußt Du zu den Ursachen Deines Schmerzes zurückkehren.

In „Arizona Dream“ gibt es eine Traurigkeit, die nicht so sehr daher kommt. daß die Wirklichkeit der USA anders ist als der Traum von ihr. Kommt in dieser Traurigkeit nicht zum Ausdruck, daß die Ideen von friedlichen Zusammenleben der Völker und Kulturen in Jugoslawien gescheitert ist und in den USA, wo sie Ausdruck einer ganz pragmatisch verstandenen Notwndigkeit war, ebenfalls scheitert?

Ja. Und es ist ein Beweis dafür, daß der Mensch, also ich selbst, das Genre des Films bin. Ich bin es, der den Ton, der die Stimmung mitbringt. Wenn ich die traditionellen Anforderungen eines bestimmten Film-Genres, z.B. einen Thriler, respektieren würde, könnte ich nicht von mir selbst, von meinen Gefühlen sprechen. Und da schwingt viel von der Punk-Musik der 70er und 80er Jahre mit, viel vom Theater Bob Wilsons, vom Bewußtsein, daß wir am Ende des Jahrtausends leben. Es geht mir mehr darum, solche Fetzen zusammenzunähen, als eine wunderbare filmische Struktur zu entwickeln. In Sarajewo habe ich mit den „Sex- Pistols“ und mit Zigeunermusik gearbeitet, um einen wirklich lärmenden Film zu machen.

Sie sind in „Arizona Dream“ zu Django Reinhardt zurückgekehrt..

Es steckt viel jugoslawisches im musikalischen Material. Ich habe ein kroatisches Lied verwendet, als Faye fliegt, und einen alten südserbischen Chor, als ihre Tochter sich umbringt. Django habe ich genommen, weil Faye ihn sehr liebt. Die Szene, in der sie das sagt, habe ich allerdings später herausgeschnitten. Der Film dauerte ursprünglich vier Stunden.

Halten Sie noch Kontakt zu ihrem Freund Abdulah Sidran, mit dem sie in Sarajewo mehrere Filme gemacht haben und der immer noch dort lebt?

Nein, er hält mich für einen Verräter, weil ich nicht mehr in Sarajewo lebe. Ich möchte ihn nie mehr sehen. Ich kann verstehen, wenn jemand zum Gewehr greift, um seine Stadt, seine Familie zu verteidigen. Das ist eine individuelle Wahl. Nicht verstehen kann ich die ideologische Wahl und das aus ihm folgende Verdikt: Wer nicht kämpft, ist ein Verräter.