Eine Amerikanerin in Berlin

Auf dem Kudamm wurde ich heute morgen um Kleingeld angehauen; von einer Frau oder, wie die New Yorker Polizei sagen würde, einer weißen Frau; einer älteren weißen Frau mit mehreren Tüchern um den Kopf.

Ihr solltet Euch schämen. Das war kein Stück Treibgut, kein Bodensatz aus der Flut der Flüchtlinge, die – so denkt man hier zuweilen – Deutschland um seinen Reichtum bringen. Es war eine der Großmütter des Vaterlandes, dem Betteln überlassen. Die Szene schockierte mich mehr als der Tag, an dem ich am Lido einen Obdachlosen traf. Sie verwirrte mich, erschütterte mich. Erinnerte mich an daheim.

Zu empfehlen sind die beiden Filme in der Reihe Forum von Li Shaohong, „Blutiger Morgen“ (nach Gabriel Garcia Marquez– Roman „Geschichte eines angekündigten Todes“) und „Familienporträt“. Obwohl sie sich im Stil stark unterscheiden, bringen beide beiläufig die Allgegenwart des staatlichen Zugriffs zum Ausdruck.

Der erste ist eine archaische Geschichte von der Unterdrückung durch Tradition — vor allem durch die Forderung, Mädchen müßten als Jungfrauen in die Ehe gehen. Als jemand für die Entjungferung eines Dorfmädchens (und den daraus resultierenden Verlust des Brautpreises) zu zahlen hat, wen wählen die Brüder des Mädchens da zu ihrem Opfer? Den Dorflehrer. Die chinesische Regierung sah darin eine Kritik am Tienanmen-Platz und der Unterdrückung der Intellektuellen seither — und verbot den Film.

Frau Shaohongs zweite Arbeit ist ein Blick auf das moderne Mittelklasseleben in Beijing. Es scheint völlig normal, ausgefüllt mit Einkaufen auf dem Markt, Nintendo und Ninja Turtles, bis eine Familie (durch eine sehr eigenartige Wendung der Handlung) mehr als ein Kind bekommt — was gegen die Pläne der Regierung verstößt. Das beste an beiden Filmen ist Frau Shaohongs umherschweifende, distanzierte Kamera, die blutigste Gewalt und banalste tägliche Details mit jener Art scharfsinniger Beharrlichkeit beobachtet, aus der große Kraft erwächst.

Weniger zu empfehlen ist Assi Dayans „Das Leben wie von Agfa bezeugt“ — wenn er sich auch, Gott weiß, alle Mühe gibt. Dem Publikum soll gezeigt werden, wie Israel seine Träume verlor. Zu den Übermittlern der Botschaft gehören ein ehemaliger Kibbutznik, der Selbstmord begeht; eine Gruppe rechtsextremer Soldaten, die trinken, Frauen begrabschen und zum Spaß Araber verprügeln; ehebrecherische Polizisten, die zum Spaß Rechtsextreme verprügeln; ehebrecherische Filmemacher in einem Kopf-an-Kopf-Rennen, wer „Pretty Woman III“ machen darf; ein linker Liedermacher, der dem Publikum in regelmäßigen Abständen erklärt, worum es geht; und viele, viele Frauen, die die Nase voll haben (mich eingeschlossen); die beste wird gespielt von Gila Almagor (mit Sophia-Loren-Appeal). Nach der Grand-Hotel-Theatertradition treffen sich alle eines Nachts in einer Kneipe, um Israels Dilemma zu enthüllen. Vielleicht könnte Dayan das alles auch ein bißchen differenzierter sagen.

Immerhin hat „Das Leben wie von Agfa bezeugt“ sein Gutes. Man sollte den Film amerikanischen Juden zeigen, die nicht wahrhaben wollen, daß ihre romantisch-märtyrerhafte Sicht auf Israel nur ihr Bedürfnis nach Märtyrer-Chic befriedigt. Das Problem der amerikanischen Juden — als Angehörigen der Mittelklasse — ist, daß sie die Sicherheit, „auserwähltes Volk“ zu sein, verloren haben; jeder will etwas besonderes sein. Deshalb nähren sie das Feuer ihrer Opfer, zu einem Zeitpunkt, an dem zum ersten Mal in der Geschichte kaum jemand interessiert ist, die Fackel zu werfen. Das Problem der israelischen Juden lautet: Wenn die amerikanischen Juden Israel nicht mehr als Therapie für ihre Identitätskrise benutzen, dann werden die arabisch-israelische Politik (und Israels eigene politisch-religiöse Fraktionen) Israel wahrscheinlich ein Ende bereiten. Dann können wir, und damit meine ich die Juden, wirklich wieder ein Volk in der Diaspora sein, auserwählt unter den Völkern, und von Herzen genießen, wie schlecht es uns geht.

Was das angeht, ist die bisher beste Zeile der Berlinale in „Le Souper“ zu finden, einer Art „Mein Dinner mit André“ in Kostümen. Man schreibt den 17. Juli 1815, Napoleon ist besiegt; die Bourbonen sollen auf den französischen Thron zurückkehren, und Talleyrand und Fouche entwerfen die Zukunft Frankreichs. Machttrunken bringt Talleyrand einen Toast auf ihre Pläne aus: „Auf den Stillstand der Geschichte und den Fortschritt der Geschäfte.“ Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning