Die Platte ist besser als ihr Ruf

Serie: Die Zukunft der Plattenbau-Siedlungen (Erste Folge)/ Die städtebaulichen Fehler sind nicht revidierbar, aber sie lassen sich korrigieren/ Ideenwerkstatt Großsiedlungen soll Konzepte erarbeiten  ■ Von Rolf R. Lautenschläger

Genauso flach und und stereotyp wie die „Platte“ selbst ist das Vorurteil ihrer Kritiker. Die typischen Bilder vom Ostberliner Plattenbau sind bekannt – und berüchtigt: „Das bis heute anhaltende Grauen“, schrieb Roland Mischke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung noch im Januar 1991, „heißt komplexer Wohnungsbau. Das Leben in einem dumpfen Betonklotz, der auf die grüne Wiese gesetzt wurde, macht gemütskrank.“ Es scheint, als hätte die betonschwere „Platte“ jedes Differenzierungsvermögen erschlagen.

Die Sichtweise auf die östlichen Großsiedlungen – Marzahn, wo zwischen 1976 und 1989 insgesamt 61.000 Wohnungen gebaut wurden, Hellersdorf mit rund 40.000 Wohneinheiten, Hohnenschönhausen mit circa 31.000 und Altglienicke mit rund 17.000 Wohnungen – ist nicht von ungefähr geprägt von einer radikalen desillusionierenden Perspektive. In der Stadtbaugeschichte gehören die Siedlungen zum Ausnahmefall. Die anonymen Wohnsiedlungen mit immergleichen Strukturen verkörpern die Ghettos unserer Zivilisation – sind Sonderart im Bewußtsein des traditionellen Stadtbildes, ohne Ruhe, Identität und pittoresker Abwechslung.

Wohnkultur nach Plan

Marzahn ist mit 150.000 EinwohnerInnen die größte Plattenbau- Siedlung der Bundesrepublik. Der langgezogene mittelgroße Stadtteil zwischen dem Wuhletal und der S-Bahn-Trasse am östlichen Rand der Metropole wurde 1976 „als Kind des Sozialismus“ unter der Federführung Heinz Graffunders geplant. Es sollte ein „Stadtorganismus“ nach Meinung des Architekten entstehen, voller Modernität und urbaner Lebendigkeit. Die baulichen Chiffren einer gewachsenen Stadt indessen ließen sich schwer auf die abstrakten Linien, Quadrate, Rechtecke und Zeilen projizieren, die zwischen sechs- und achtspurigen Autobahntrassen, Abstellflächen und unmaßstäblichem Abstandsgrün eingeklemmt liegen. Der „Stadtorganismus“ degenerierte zur unverständlichen „industriell gefertigten Wohnkultur nach Plan“ aus immer gleichen Typen für Wohnblocks mit sechs, neun und elf Geschossen.

Die Plattenbauten Marzahns lassen die Hast spüren, mit der das Quartier abschnittsweise aus dem Boden gestampft wurde: 1977 begannen die Baumaßnahmen im Hauptzentrum, es folgten die Planungen für die Allee der Kosmonauten. Marzahn-Nord ist schon mehr auf die Wiese gewürfelt. Marzahn-Ost, so groß wie Heilbronn oder Oldenburg, ist keinem Reißbrett mehr entsprungen. Das Zentrum Marzahns wirkt dabei städtebaulich und qualitativ – in der Ausstattung der Wohnungen – am differenziertesten. Die Bauten sind von unterschiedlicher Höhe und Gestalt. Die Hochhäuser am westlichen Rand symbolisieren eine Torsituation. Die Höfe geben durch Gestaltung und Farbigkeit in einem sich verändernden Niveau Anhaltspunkte zur Orientierung. Die Atmosphäre von Urbanität in der monofunktionalen Wohnlandschaft aber lassen der zentrale Dienstleistungskomplex, die Einkaufszentren oder das Schwimmbad nicht aufkommen. Vielmehr spiegelt sich hier die eigentliche Misere der Marzahner Planungsgeschichte, wo Anspruch, Qualität, Architektur und Städtebau von der Stereotypie des industriellen Bauens regelrecht exekutiert wurden. Ursprünglich war geplant, daß Architekturwettbewerbe der wachsenden Stadt unterschiedliche Physiognomien geben sollten. Die Struktur der Häuserzeilen der Wohnbauserie 70 (WBS70) ist gekennzeichnet von städtebaulicher Nachlässigkeit und der Abwesenheit ästhetischen Gefühls.

Abwesenheit ästhetischen Gefühls

„Anfang der siebziger Jahre“, erinnert sich der Architekt Heinz Willumat, „wurden in Zusammenarbeit zwischen der Bauakademie der DDR und dem Wohnungsbaukombinat Neubrandenburg die bautechnischen Grundlagen der Wohnungsbauserie 70 erarbeitet. In den folgenden Jahren ist die Serie WBS70 in das Produktionsprogramm aller Wohnungsbaukombinate übernommen worden. Von den insgesamt 1,74 Millionen Wohnungen, die in Plattenbauweise errichtet wurden, entfallen circa 50Prozent auf diesen Typ. Damit ist die WBS70 die am häufigsten gebaute Serie.“

Aus standardisierten Fertigteilen wuchsen zusammengewuchtete Kisten gleicher Höhe und Form für genormtes Wohnen. Durch das vorgegebene Plansoll wurde am Bau geschludert. Die Platten paßten nicht ins Maß, die Fassaden erschienen nur mehr schnell fabriziert, Fenster und Fugen blieben undicht. „Die Defizite wurden quälend bewußt“, meint die Soziologin Simone Hain, „die Starrheit der Grundrisse, die Härte der Wände, an die man nicht einmal eine Kinderzeichnung zwecken konnte. An den Orten endlosen Wartens bedrückte mich die Ödnis besonders. Architekten, schlaft Ihr!? Soziologen, was tut Ihr? Es liegt doch auf der Hand. Es fehlen Räume für wirkliche Kommunikation.“

Nebeneinander von Bauteilen

Unterschiedliche Stadtbilder, öffentliche Räume, die offen oder versteckt, ruhig oder laut, reizend oder erholsam und eine Hierarchie und Spannung zwischen den Architekturen vermitteln, sind in Marzahn kaum vorhanden. Anstelle eines „Stadtorganismus“ wird der Städtebau bestimmt von extrem monotoner disfunktionaler Bauweise, deren Proportionen und Maßstäbe nicht aufeinander abgestimmt scheinen und Raumbildungen verhindern. Ein Nebeneinander ungenügend integrierter Baukörper und Straßen zerreißt quasi den Raum und schafft keine Haltepunkte. Die notwendige Steigerung zwischen Freiraum, Straßenraum und Architektur gibt es kaum. Über die riesigen Parkplätze sucht der Blick vergebens den Rahmen, der die Flächen zusammenhält. Marzahn ist kein Ort. Nirgendwo?

Nach einer Untersuchung der Senatsbauverwaltung ist die „Platte“ besser als ihr Ruf. Die städtebaulichen Fehler sind nicht revidierbar, lassen sich aber korrigieren. Die WBS-70-Platte wird – nach der Reparatur kleinerer Bauschäden durch Rißbildungen an den Außenwänden, Fugen, Auflagen der Balkone und Decken – „noch hundert Jahre halten“, wie Bausenator Wolfgang Nagel hofft. Entsprechend genießen die Instandsetzung und Modernisierung der Plattenbauten oberste Priorität. Rund 17.000 DM pro Wohnung, insgesamt also 1,2 Milliarden Mark für Marzahn kommen auf Berlin, die Wohnungsbaugesellschaften und ihre Mieter für die behutsame Erneuerung der Wohnungen zu.

Für weitergehende Baumaßnahmen wie Geschoßausbauten und Wohnumfeldverbesserung an Hauseingängen kommen noch einmal 3,6 Milliarden Mark hinzu. Bis 1994 stehen für Erneuerungsmaßnahmen insgesamt 90 Millionen Mark zur Verfügung.

Zweite Stadtwerdung

Die Stadtwerdung Marzahns gründet sich auf der Differenzierung der Blöcke, Straßen und Plätze sowie deren Akzentuierung. Neben dem Ausbau des Zentrums „Marzahner Promenade“ mit Neubauten für Geschäfte, Restaurants, Büros, Freizeiteinrichtungen und Gewerbebetriebe zu einer „Stadt- Spange“ bis zum Rathaus, sollen drei Unterzentren in Marzahn-Ost und Marzahn-Nord entstehen. Deren Struktur bedient sich des Bildes einer städtischen Einkaufsstraße. Durch die Bebauung entlang der Landsberger Chaussee und der Märkischen Allee wird gleichzeitig die Grenzwirkung dieser den Bezirk teilenden Autostraße gemildert. Die Stadtteilzentren liegen in der Nähe der S- Bahnhöfe sowie an den zuführenden Straßen und sollen durch eine ergänzende Bebauung neu gefaßt werden. Die Herausbildung dieser lokalen Milieus aus Plätzen und Passagen schaffen zwar visuellen Halt, bilden neue Mitten und Punkte zur Identifikation. Sieht man sich aber etwas das geplante Gewerbezentrum der Dibag-AG mit einem 100 Meter hohen Turmhaus und einer 250 Meter langen Passage für 150 Millionen Mark, die Geschäftsblöcke für Marzahn- Nord mit 120.000 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche oder den „Marktplatz“ der Inka-GmbH in Marzahn-Ost an, kommen Zweifel an der Stadtwerdung auf. Die Modelle erscheinen wie Implantate aus dem Stadtbaukatalog der europäischen Architekturgeschichte, mit denen man vorsichtig umgehen sollte. Das Ungetüm des nicht recht fertig gewordenen sozialistischen Stadtkonzepts verträgt die Transplantationen der Passage, der Plaza oder der Mall nicht so leicht, wird doch Urbanität im mediterranen Format inszeniert, ohne sich dabei des Wesens des vorhandenen Städtebaus anzunehmen. Das altehrwürdige architektonische Angebot definiert nun postmodern den öffentlichen Raum als halbprivat und verbannt die Orte für Identität und Kommunikation in die Binnenzonen der Architekturen.

Ideenwerkstatt Großsiedlung

Die entwickelten Rahmenpläne für Marzahn sollten nicht nur das Bekannte herausarbeiten, sondern sie müssen das Eigene, die Besonderheiten des Städtebaus und seiner Strukturen betonen und Neues schaffen. Die in diesem Jahr anvisierte „Ideenwerkstatt Großsiedlung“ des Bausenats könnte solche Handlungskonzepte zur Verdichtung erarbeiten. Die Philosophie des Weiterbaus muß sich in Marzahn an den Perspektiven des Neubaus, der Ansiedlung von Produktionsstätten und an der Nutzung ökologischer Ressourcen orientieren. Die Topographie Marzahn bietet dafür drei Eckpfeiler an: große Wohnbauflächen, das 750 Hektar große Industriegebiet (das größte Berlins) und das Wuhletal. „Am Elsterwerdaer Platz, einem ehemaligen NVA-Gelände, werden neue Wohnungen und soziale Infrastruktureinrichtungen gebaut“, erklärt Baustadtrat Achim Wegeleben.

Wie in der Ringelnatz-Siedlung werde dort der Wohnungsbau den Kontrast zur Großplattensiedlung im Übergang zur Landschaft suchen. Die neuen Produktionsstätten in Marzahn-West, die Elpro-AG, die Kraftwerksanlagen-AG, die VEAG, Sternradio und die Berliner Werkzeugmaschinen-Fabrik – jetzt Standort für die Knorr-Bremse-AG, können die monofunktionale Stadt aus ihrer Isolation herausführen. Eine zukünftige Investition könnte die Anzahl der Arbeitsplätze auf insgesamt 35.000 steigern.

Die Wiedergewinnung des Wuhletals als Landschaftsraum östlich der Großsiedlungen ist ein Ansatz, dem künstlich geschaffenen Stadtteil ein Stück Natürlichkeit zurückzugeben. Mit der Gestaltung des Wuhletals besteht die Möglichkeit, einen zwölf Kilometer langen Nord-Süd-Grünzug zu schaffen, der mit der Erschließung des Fließes und seiner Ufer die angrenzenden Wohngebiete mit Parks und Grünanlagen neu definieren kann. Dieses Konzept stellt die nordsüdliche Freiraum-Verbindung als grünen „Hauptverkehrsweg“ ins Zentrum. Zugleich „streut“ der Grünzug ein ganzes Netz grüner Wege und Alleen in die Siedlung und verlängert den Landschaftspark in die Plattensiedlung hinein. Ein kühner Vergleich soll ein historisches Bild in Erinnerung rufen: Die leeren Straßenzüge der gerade fertiggestellten Siedlungen der zwanziger Jahre erscheinen auf frühen Fotos ähnlich kühl und leblos. Heute prägt die Siedlungen ein fast lieblicher Gartenstadt-Charakter. Die Hommage an die Architektur der klassischen Moderne bleibt, auch wenn nur als Bild, vielleicht das Ziel der Bauaufgabe Marzahn.

Die Serie wird morgen fortgesetzt.