Eine Amerikanerin in Berlin

Eine halbe Nacht lang hat mich die „treiben“-Liste am Einschlafen gehindert. Die „treiben“-Liste stammt von ein paar Freunden, die ich — im Rahmen meiner mutigen, wenn auch erfolglosen Versuche, deutsch zu lernen — nach dem deutschen Wort für „exaggerate“ gefragt hatte. „Übertreiben“ sagt man, sagten sie, aber mit charakteristischer deutscher Gründlichkeit erklärten sie mir obendrein, es gebe auch ein „untertreiben“, ein „austreiben“, ein „vertreiben“, ein „betreiben“, ein „auftreiben“, ein „hintertreiben“ und schließlich einen „Vertrieb“, wobei einige der Präpositionen beim Verb verbleiben und einige nicht. Das kommt mir vor wie semantische Inzucht, aus der jene Sorte Idiotie erwächst, die wir sonst nur aus den königlichen Häusern Europas kennen (Ergänzungen der Liste sind immer willkommen, da es ja sicherlich noch ein paar gibt).

„El Mariachi“, zweifellos einer der besten Filme der Berlinale, konnte produziert werden, nachdem Regisseur Roberto Rodriguez sich in ein Sanatorium für Geisteskranke einweisen ließ, im Rahmen einer Versuchsreihe, mit der er sich, wie er erzählt, ein bißchen zusätzliches Geld und außerdem freie Zeit beschaffte, um das Drehbuch zu schreiben. Er machte seinen Film mit 7.000 Dollar, und den Columbia Pictures gefiel er so gut, daß sie ihn nicht nur in ihren Verleih aufnahmen, sondern ihm auch ein Remake für 7 Millionen Dollar hinterherschickten. Der Film ist eine (im Stil wie in den Kosten) ökonomische Satire auf den Machismo und die Liebesschnulzerei im mexikanischen Kino. In der Art einer „Invasion der Datenhacker“ erzählt der Film von Gaunern mit Computern in den Gefängniszellen; der Gute, der Böse und der Häßliche kommunizieren per Zellentelefon, und ein hübscher junger Mariachi-Musiker geht gegen die Konkurrenz der Synthesizer baden. Im Stil erinnert „El Mariachi“ an die ironischen Kamera-Scherze von „Blood Simple“, dem ersten Film der Brüder Coen (die später „Barton Fink“ machten). Die Art seines Humors — eine Mischung aus Ironie und überzogener Parodie — erinnert an Jim Jarmusch, gekreuzt mit einem heterosexuellen Almodovar — wie immer das aussehen könnte.

„Die Frauen vom See der duftenden Seelen“ ist der beste aus einer Reihe von Filmen aus China und Japan — ebenfalls unter den besten bisher auf der Berlinale —, die in der Situation der Frauen ein Symbol für alle politischen und sozialen Übel der Gegenwart sehen. Das ist ziemlich wörtlich zu nehmen, denn das Schicksal der Frauen in „Blutiger Morgen“, „Familien- Portrait“, „Das Zimmer“ und „Die Frauen vom See der duftenden Seelen“ entspricht dem Schicksal ihrer Länder. Aber auch als Symbolismus ist es zutreffend: schlimmer als die Männer sind die asiatischen Frauen gefangen zwischen den erdrückenden Traditionen der Vergangenheit und dem Versagen der Gegenwart.

Der minimalistische Film „Das Zimmer“ pflügt sich durch die Trümmer, die Tokios Grundstücksboom und die Anomie des japanischen Stadtlebens hinterlassen haben — dargestellt am flachen, gefühlsarmen Leben einer jungen Grundstücksmaklerin, deren Konversation zum regungslosen Herunterbeten von Raummaßen verkommen ist. Sie kann nicht in die Rolle der traditionellen japanischen Frau zurückkehren, aber ihre Karriere verläuft auch ohne Sinn und Ziel. „Blutiger Morgen“ wendet sich gegen das noch immer herrschende Dogma der vorehelichen Jungfräulichkeit, und „Die Frauen vom See der duftenden Seelen“ bringt die Ironie ins Spiel, daß Frauen unter erstickenden Ehe- und Wirtschaftszwängen einander eben das antun, was ihnen angetan wurde.

Die fleißigste Frau in einem kleinen chinesischen Dorf — ihr Sesamöl-Geschäft ist so erfolgreich, daß es japanische Investoren anlockt — hat es sich in den Kopf gesetzt, ihren Sohn zu verheiraten, obwohl er geistig zurückgeblieben und emotional ziemlich gestört ist. Mit einem raffinierten Plan manövriert sie eine intelligente, fähige, aber arme junge Frau in die Ehe mit ihm, und das Mädchen wird unglücklich. Im Lauf der unheilvollen Geschichte erfährt man, daß auch die ältere Frau vor Jahren in eine lieblose Ehe mit einem trunksüchtigen, hinterwäldlerischen Mann verkauft wurde, der sie auch heute noch verprügelt. Bei all ihrem modern anmutenden finanziellen Erfolg ist sie in einem Netz gefangen, das ebenso tückisch ist wie jenes, das sie für ihre Schwiegertochter geknüpft hat. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning