■ Wir lassen lesen
: Über die Linie

Irgendwo gibt es eine unsichtbare Linie, einen schmalen Grat, und wer ein Stück darüber hinaustritt, ist rettungslos verloren. Ja, wir reden über Fußball. Vielleicht mag es der unbelastete Zeitgenosse schon für verrückt halten, Woche für Woche bei Wind und Wetter Fußballstadien zu besuchen. Er wird schockiert konstatieren, daß dafür mitunter mehrere hundert Kilometer Anreise in Kauf genommen werden. Empört wird er feststellen, daß sogenannte Fußballfans kaum eine Sportsendung verpassen, ihre Zeitungslektüre konsequent mit dem Sportteil beginnen und ihr liebster Konversationsgegenstand unbeirrbar Fußball bleibt. Aber selbst im dunklen Kontinent schwerer Fußballsucht gibt es noch Abgründe. Auch dort gibt es noch ein Jenseits, wo der Wahnsinn lauert.

Was etwa hat den 29 Jahre alten Industriekaufmann Matthias Kropp dazu veranlaßt, die Chronik aller 2.560 Bundesligaelfmeter zwischen 1963 und 1991 zu schreiben? Unbeirrbar positivistisch hat er auf 132 Seiten jeden Schuß erfaßt, Spieltag für Spieltag, Verein für Verein, Spieler für Spieler. Und jetzt wissen wir, daß am 26. Spieltag der Saison 1966/67 alle drei verhängten Elfmeter verschossen wurden, daß in all den Jahren die Elfmeterschützen des VfL Bochum mit 81,37 Prozent Trefferquote am erfolgreichsten waren und Jörg Neun seine beiden Elfmeter für Waldhof Mannheim verschoß. Gerd Müller versemmelte sogar zwölf seiner 63 Elfmeter, das aber bedeutet noch immer eine Trefferquote von 80,95 Prozent und Platz 13 in der Liste der effektivsten Schützen (mit mehr als zwanzig geschossenen Elfmetern).

Der Kasseler Sport Verlag ist es, der sich auf solch taumelnd machende Informationskompendien spezialisiert hat. Die komplette Statistik von Schalke 04 (1920 bis 1992) ist kürzlich fertig geworden. Die „Regionalliga Süd 1963/64“ folgt auf dem Fuße. Auf den Band „Fußball in Columbien“ (seit 1950) müssen wir noch etwas warten. Aber wer in übersichtlicher Form die Saison 1991/92 in Belgien noch einmal an sich vorüberziehen lassen will, der ist mit dem Jahrbuch von Serge und Yves van Hoof bestens bedient.

Doch damit nicht genug, die Geschichtsschreibung geht weiter. Im Vokabelheft-Format präsentiert sich der „Fußball- Almanach 1900 bis 1943“ als „das Statistikwerk über den Vor(?)kriegsfußball in Europa“.

Die meisten Teile sind Reprints. Daher aufpassen: es lohnt nicht, die Nummer der „NS Turngemeinschaft Prag“ anzurufen. Unter 43751 meldet sich niemand mehr. Empfehlenswert auch die beiden Dokumentationen zu den Weltmeisterschaften 1930 und 1950 (erstmals in deutscher Sprache).

Highlight des Programms ist aber der Reprint von acht Kicker-Sonderheften aus dem Jahr 1941, einzeln oder im auf 500 Exemplare limitierten „Slip- Case“ aus „vierfarbigem polyleinen-veredeltem Karton“. Der Volltrip zu „Deutschlands Fußballmeistern“, dem „Wunderteam aus der Ostmark“ und dem „Feldherrn der Fußballschlacht“ – im Originalstil des 30er-Jahre-Sportjournalismus. („Das neue Ideal: Führer sein und handeln!“) Bestellpreis: 198DM.

Haben Sie demnächst ein wenig mehr freundliche Worte für den ganz normalen Fußballverrückten. Fühlt er sich nämlich zu sehr in die Ecke gedrängt, bestellt er sonst noch den „Jahreshauptkatalog“ des Kasseler Sport Verlages. Kann man das wollen?

JJJJJJaaaaaaaaaaaahhhhhh! Christoph Biermann

Jahreshauptkatalog, Kasseler Sport Verlag, Frankfurter Str. 92a, 3500 Kassel.