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Stellen Sie sich vor...

KOMMENTAR

Stellen Sie sich vor...

Wer vor 15 Jahren den Kriegsdienst verweigerte, wurde im Prüfungsausschuß mit einer obligatorischen Gewissensfrage konfrontiert: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit ihrer Freundin im Wald spazieren, und plötzlich wird Ihre Freundin von einem Mann mit einem Messer angegriffen?“ Wer antwortete: „Ich verprügel den Angreifer“, war durchgefallen, da er offenkundig doch kein echter Pazifist aus Überzeugung ist.

Nach einer ähnlichen Logik verfuhr gestern auch das Amtsgericht. Dort lautete die Frage: „Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf dem Schulterblatt und Ihre Frau wird plötzlich von maskierten Schlägertypen in einen VW-Bus gezerrt?“ Die richtige Lösung anno 1992: „Man guckt zu und tut gar nichts, denn das können nur unsere Jungs der ‘16E'-Schicht sein!“

Doch selbst die Eingeborenen im Schanzenviertel brauchten seit 1989 fast zwei Jahre, um des Rätsels Lösung zu kennen, das Agieren des Sondertrupps im ganzen Umfang zu erfassen und sich an Praktiken der „16E“-Schicht zu „gewöhnen“. Aber der in der DDR gebürtige Frank Fennel konnte so etwas natürlich nicht wissen. Denn in der doch so verachteten Stasi-DDR gab es nämlich keine zivilen maskierten Polizeitrupps, die in Zivilfahrzeugen und Szeneklamotten umherwieseln und dann — wenn der Moment günstig ist — zuschlagen.

Amtsrichter Hans-Dieter Neselmann hat daher mit seinem Urteil — das aller Realität trotzt — dubiosen Polizeipraktiken Vorschub geleistet. Es mag böse klingen: Aber vielleicht kommt einmal ein junger Richter mit seiner Freundin oder eine junge Staatsanwältin mit ihrem Freund in eine ähnliche Situation wie der 25jährige Schlosser Fennel. Man mag dann auf das Urteil gespannt sein. Kai von Appen

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