Neu im Kino
: "Orlando" von Sally Potter

■ Identität: Bilderlust

Neu im Kino: „Orlando“ von Sally Potter

Identität: Bilderlust

Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Literaturverfilmung. Orlando, der Roman, mit dem sich Virginia Woolf 1928 als die britische Schriftstellerin etablierte, erzählt die Geschichte des jungen britischen Edelmannes Orlando, der die Begünstigung durch Elisabeth I im Jahr 1600 damit bezahlen muß, daß er nicht altert. Und das runde 350 Jahre lang nicht. Dafür wechselt Orlando zur Halbzeit das Geschlecht, sonst nichts, und wird zur Frau. Andersherum gesehen, erzählt Orlando die Geschichte einer modernen, jungen Frau, die früher, vor Jahrzehnten einmal, ein Vermögen besaß und noch viel früher ein britischer Landedelmann gewesen war. Orlando, der Roman, ist ein Spiel mit Identitäten, mit einer weiblichen in erster Linie, mit männlichen Anteilen daran und natürlich auch mit den harten sozialen Konsequenzen, die Weiblichkeit mit sich bringt.

Ein frugaler Stoff für einen Film. Nicht einfach, aber verlockend, weil prallvoll mit assoziationsreichen Sprüngen und Wechseln, ein Stoff, an dem sich die Bilderschöpfer austoben können, wo Erzählen nicht heißt, scheu und beklappt das Wahrscheinliche zu reproduzieren. Ein phantastischer Stoff, was meint: ein phantasie- und anspruchsvoller.

Sally Potter ist nicht einfach nur eine weitere Regisseurin. Als Choreographin, Performance-Künstlerin und Musikerin hat sie sich ein weites Feld an Ausdrucksformen erschlossen und einen Blick auf das Medium Film entwickelt, der sich selbst in Frage stellt und sie zwingt, Film nicht mit Realität zu verwechseln, sondern als künstlerisches Medium, als Gestaltung, kenntlich zu machen.

Ihr Film „Orlando“ zieht seine Anziehungskraft aus zwei Quellen. Da ist einmal die Freude an Bildern, die Lust daran, mit Licht und Farben Räume zu gestalten und mit der Kamera zu malen. Eine britische Spezialität. Ferne Länder, fremde Zeiten: barocke Obsttafeln, brokatgedeckt, gelb- orange-rot blumig, goldgebiest. Die große Kälte, silbergrau und eisig, beschlittschuhte Müßiggänger auf der großen Eisfläche namens Themse, überdimensionale Russenhüte über orthodoxen Bartmatten. Das seidige Blau, in dem das Konstantinopel des 19ten Jahrhunderts erscheint, das klare Leuchten der sonnendurchstrahlten Landschaft, die horizontlose Weite — alles wird neu inszeniert, jeder Ort des Films ist ein Kunstraum, in dem der märchenhafte Zug des Erzählten erst Wirklichkeit bekommt. Ein Film ist ein Film, Fiktion Fiktion, und in jedem Fall erzählen Filme Geschichten, die jenseits der Nacherzählung ihres Plots liegen.

Der zweite Energiequell des Films „Orlando“ sind, so soll es sein, die SchauspielerInnen, die mit ihrer Ausstrahlung die Zuschauerschaft in den Gang der filmischen Erzählung hineinziehen, aus der sie ihn dann abrupt wieder verstoßen. Ein Film ist ein Film, und die Zuschauerin sitzt vielleicht in der ersten Reihe, aber bestimmt nicht in der filmischen Handlung. Das soll sie auch wissen.

Da ist schließlich anderen überstrahlend und die zentrale Bildidee dieses Films: Tilda Swinton, Schulgefährtin Lady Dis und der barocken Elisabeth I wie aus dem Gesicht geschnitten, die sich an ihrer hochadligen Herkunft rächt, indem sie als Schauspielerin nur an außergewöhnlichen, exzentrischen Filmen mitwirkt: stolz, blaß und rothaarig, groß, schlank und unerhört zerbrechlich, mehr knabenhaft als androgyn, eine britische Dame, wie sie britischer kaum vorzustellen ist, belebt sie in der Titelrolle diesen Film von vorn bis hinten mit ihrer stillen Präsenz, ihrer unaufdringlichen Kraft. Ein Glücksgriff.

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Schauburg, 20.30, 22.45 Uhr