: Alle liebten Malcolm
Archie Shepp über MalcolmX, Spike Lee, Sister Souljah und Black Leadership ■ Ein Interview von Christian Broecking
Archie Shepp ist seit 1975 Professor am Black Studies Department der Massachusetts University in Amherst, Massachusetts. Dort hält er derzeit Vorlesungen über „revolutionäre Konzepte in der African American Music“ und über den „schwarzen Musiker im Theater“ (vor hauptsächlich weißem Auditorium). „Ironie des Schicksals“, sagt er, „was von den Sechzigern geblieben ist, sind die ,Black Studies Departments‘ an den ,weißen‘ Universitäten.“
1960 gab der Tenor- und Sopransaxophonist Shepp sein Plattendebüt bei Cecil Taylor („The World of Cecil Taylor“). In den folgenden Jahren spielte er mit John Coltrane, der ihm auch zu seinem ersten Plattenvertrag verhalf.
125 Platten soll er seitdem unter seinem Namen eingespielt haben, doch der zornige Avantgardemusiker der sechziger Jahre ist ihm immer noch anzumerken. Auch wenn er musikalisch inzwischen dort angelangt ist, wo er einst begann – beim Blues.
Neben seiner intensiven Auftrittsarbeit als Musiker ist Shepp auch als Theaterautor und Schriftsteller tätig.
taz: Sie haben einst das Idiom „Jazz“ durch den Begriff „Black Music“ ersetzt und eingegrenzt. Wie würden Sie die gegenwärtige Situation schwarzer Musik beurteilen? Und wie würden Sie darin Spike Lees Film „MalcolmX“ einordnen – ein Revival der Sechziger?
Shepp: Bis zu einem bestimmten Punkt mag vieles heute wie ein Revival erscheinen. Ich würde aber eher von einer Evolution sprechen, einer Evolution dessen, was wir in den Sechzigern erlebt haben. Die Hinrichtung von Martin Luther King und MalcolmX haben eine nicht zu überschätzende Wirkung auf all das, was wir heute erleben. Ich spreche hier von Bruch und Kontinuität im Verhältnis der sechziger Jahre – als einer herausragend revolutionären Periode – und der Neunziger, einer Periode, in der Black People sehr hart und verzweifelt versuchen, ein Terrain wiederzugewinnen, das wir in den Sechzigern schon erkämpft hatten. Das Bewußtsein unserer jungen Leute, so dramatisch und charismatisch es zunächst scheint, ist tatsächlich vor allem anachronistisch. So erinnert mich zum Beispiel der Höhepunkt in Spike Lees Film „Do The Right Thing“ an eben das, was ich schon als junger Mann gemacht habe, als wir die Scheiben der großen jüdischen Supermärkte in der 125. Straße zertrümmerten und abhauten, bevor die Polizei eintraf... Ich habe Lees Signal so gedeutet, als sollten wir das heute wieder machen – irgendwo ein paar Scheiben zu Bruch gehen lassen – und dachte: Wir haben also nichts dazugelernt, sind irgendwie nicht weitergekommen. Völlig unreflektiert bleibt hier doch, daß sich in den letzten 30 Jahren nicht nur die Gesetze geändert, sondern auch die Augen der Menschen geöffnet haben. So haben sich auch die möglichen Wirkungen solcher Aktionen verändert – zur Belanglosigkeit. Man denke nur an den Aufruhr in L.A. im vergangenen Jahr – der verpuffte vollkommen wirkungslos. Warum? Weil er weder mit einem Kampf noch einer Idee, einer Leadership oder Organisation zusammenging. Als wir damals die Scheiben einschmissen, waren wir Teil einer umfassenden sozialen Bewegung: Martin Luther King predigte im Süden, die Black Muslims in Chicago, MalcolmX in New York. Allein die Muslims hatten damals einen unglaublichen Einfluß auf uns. Count Basie, Duke Ellington und John Coltrane – sie alle liebten Malcolm. Sie wußten immer, wo Malcolm sich gerade aufhielt. Er sprach direkt zu uns. Auf der anderen Seite gabe es auch diese immense politische Arbeit der Muslims unter dem sogenannten „Lumpenproletariat“. Ihre Organisationsfähigkeit von Dealern, Zuhältern und Gefangenen war damals unglaublich.
Sie wollen sagen, daß eine Black Leadership heute fehlt?
Genau das ist es. Je älter ich werde, desto mehr glaube ich zu wissen, wie wichtig Leadership ist. Und ich meine damit nicht nur King, Malcolm, sondern auch die Kennedy-Brüder. Mit ihrem Tod ist eine Kontinuität abgebrochen, die uns heute fehlt. Ihr Tod trennt, im nachhinein betrachtet, den Aufbruch der sechziger Jahre von der heutigen Situation. Ich sehe die amerikanische Tradition, sich schwarzer wie weißer politischer Leadership durch Hinrichtung zu entledigen, als fortgesetzte Konterrevolution, die im Aufwind des Konservatismus und der Reagan- Wahl ihren vorläufig letzten Sieg errang. Die Gebärden der jungen Schwarzen heute, ihr Rückgriff auf Vergangenes, zeigen mir, daß die Kontinuität des Liberalen ernstzunehmend abgebrochen ist. Heute sind viele Schwarze frustriert, da es keine Leadership mehr gibt – und auch nicht in Sicht ist.
Haben Sie Lees „X“-Film gesehen?
Nein. Ich muß mich regelrecht darauf vorbereiten, bevor ich mich auf diesen Film einlassen kann. Außerdem ist es ja kein Dokumentarfilm, sondern eine Hollywood- Produktion. Das bedeutet, es kommt eine andere Realitätsebene hinzu, die für mich nie unproblematisch sein wird. Ich bin erwachsen geworden zu einer Zeit, als wir uns der westlichen Kultur verweigert haben. Aber gleichzeitig habe ich an der Uni die gesamte abendländische Literatur studiert. Die erste Stufe des Nationalismus war, die eigene Identität zu finden. Das taten wir in den Sechzigern: Black and Proud, Black Power und all das, was man „afrozentristisch“ genannt hat. Für mich bedeutet das heute: Wenn du deine Identität gefunden hast, mußt du dich nicht noch dafür rechtfertigen. Ich verweigere mich der weißen westlichen Kultur fast vollständig. Ich fühle mich wie ein Mann, der zu lange geschlafen hat. Das habe ich in den Sechzigern gelernt: Wach auf, Black Man! Jetzt bin ich aufgewacht und das heißt: Ich habe noch so viel von meiner Kultur zu lernen, daß keine Zeit mehr bleibt, sich mit den Kulturen anderer zu beschäftigen. Ich verweigere mich der Nigger-Aura, auch wenn mich das Wort „Nigger“ immer noch trifft. Aber ich habe gelernt, mich bewußt zu verweigern, das ist das wesentliche Ergebnis meines Identifikationsprozesses als Black Man.
Kommen wir aber zu Spike Lee zurück: Kino ist für mich eine weiße westliche Technik und Spike ein weißer Mann mit schwarzem Gesicht. Er hat das selbst noch nicht wahrgenommen, da er immer noch in seiner nationalistischen Phase hängt. Ich habe hinter mir, worum es in diesem Film geht. Es geht um etwas, worauf ein junger Black Boy ein Recht hat. Aber ich bin ein Black Man, ich könnte fast Spikes Vater sein. Und ich sehe das, was sein Vater sieht. Wir Alten können darüber schmunzeln.
Wie steht es nun heute um den Generationsvertrag in der Black Music? Treten die HipHopper die Nachfolge der Jazzer an?
Zunächst einmal zur ökonomischen Dimension. In dieser Hinsicht mag vielleicht Michael Jackson der Nachfolger von Coltrane oder Stevie Wonder der Charlie Parker unserer Tage sein. Wenn wir nun von den HipHoppern, von sogenannter Black Music heute reden, möchte ich etwas Verblüffendes ins Feld führen, etwas, das auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag: Die schwarzen Kids, die heute von den Massenmedien präsentiert werden, sind großenteils Leute, die keinen Schulabschluß haben. Für die Wahrnehmung eines Black Man, der in einer weißen Welt lebt, ist aber das Verständnis des weißen westlichen Wertesystems immens wichtig. Die Kenntnis westlicher Kultur, Literatur und Sprachen ist für uns notwendig – auch oder gerade, wenn wir uns bewußt in einen anderen politischen Kontext begeben. Wenn Ice-T sagt „Killt die Bullen“, mag das aus seiner Perspektive okay sein, auch wenn die Richtung etwas kurzatmig und vielleicht falsch gewichtet erscheint. Er spricht eben den Slang der Straße und des Knasts, seine Sprache also – wie die meisten Kids heute sehr direkt. Aber zugleich scheint sich hier auch ein Mangel an Fähigkeit zu offenbaren, sich anders ausdrücken zu können. Dasselbe bei Sister Souljah, die gegen die sexuelle Interaktion zwischen schwarz und weiß rappt. Das scheint mir doch ein zu sehr begrenzter Horizont zu sein. Ihr fehlt offensichtlich völlig die Wahrnehmung anderer Welten, Welten, wie sie Malcolm einst beeinflußt haben, als er auf Jamaika sah, daß ganz andere Formen weiß-schwarzen Zusammenlebens vorstellbar sind, als in Amerika. Ebenso könnte es für viele dieser Kids eine traumatische Erfahrung sein, etwa in Paris oder Berlin einem afrikanischen Schwarzen zu begegnen, der auf ein „Hey Brother, what's happenin'?“ nur mit Unverständnis, Desinteresse gar reagiert – weil er sich nicht notwendigerweise als Brother fühlt. Es ist einfach zu viel Simplifizierung im Spiel bei diesem direkten nationalistischen Code. Und da schließe ich Spike ausdrücklich mit ein. Was da gegenwärtig zum Ausdruck kommt, ist ein Mangel an Erkenntnis und Weltoffenheit und eine Überbetonung der rassistischen Erfahrung, mit der Amerika die schwarzen Kids versorgt.
Was übersehen wir, wenn wir Clintons Happy Face und die HipHopper als die amerikanische Realität identifizieren?
Ihr seht das, was vermarktbar ist. Wenn es danach geht, muß der durchschnittliche Weiße glauben, daß der durchschnittliche Schwarze heute zwischen neunzehn und einundzwanzig Jahre alt ist, kopfstehend tanzen kann usw. Aber das ist eben das Image, das die Medien von uns produziert haben: eine Maske, eine Minstrel- Show, nichts weiter. Und was soll der lachende Clinton nicht alles tun – Ha! Ha! Ha! –, und versteh mich richtig: Ich wünsche mir wirklich, daß er etwas bewirkt, deshalb habe ich ihn auch gewählt. Clinton ist ein weißer Junge vom Lande. Er weiß etwas von der oralen Tradition. Er mag Neger, wenn sie einfach sind, nicht so kompliziert wie Charlie Parker oder George Coleman. Nein, Jazz-Musiker wird er wohl nicht ins Weiße Haus einladen – vielleicht Wynton Marsalis, das ist dann aber eine politische Entscheidung.
Könnte die Präsenz der Schwarzen in den Medien eine Veränderung bewirken?
Sicher könnte sich was ändern. Aber die Situation des schwarzamerikanischen Volkes ist doch viel komplizierter. Ich möchte sagen, daß sich unser Volk heute mit Bedingungen konfrontiert sieht, als wäre es im Krieg. In einigen unserer Communities stirbt täglich mindestens ein Mensch, nicht in New York, aber in Washington oder New Orleans. Dort scheint es im Schnitt schlimmer zu sein als in Somalia. Das ist eine ernste Krise. Die Schwarzen bringen sich gegenseitig um, die Community frißt sich selbst auf, sie ist durch und durch krank. Eine Hilfe ist nicht in Sicht. Vielleicht wird das Ozonloch die Weißen irgendwann dazu bringen, sexuelle Kontakte mit Schwarzen einzugehen, um den Nachwuchs zu sichern. Wie auch immer – die Natur mag die Lösung bringen, an die Politik kann ich derzeit nicht glauben. Ich möchte meine Wahrnehmung der benannten Vorgänge mit einem Beispiel illustrieren: Als ich ein Kind war, konnte meine Grandma Rose mir ein Saxophon für 500 Dollar kaufen. Das konnte man mit fünf Dollar die Woche abstottern. Also gab es überall Saxophone. Als ich siebzehn war, verlieh ich mein brandneues Saxophon an Jimmy Heath, weil er seins nicht dabei hatte. Frank Foster spielte, Coltrane spielte. Alle spiel
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ten damals Saxophon, weil es „nur“ 500 Dollar kostete. Heute kostet ein vergleichbares Instrument über 3.000 Dollar. Denk jetzt mal an die Kids, die in L.A., Southside Chicago oder in den Brickyards von Philadelphia leben. Sie können sich kein Saxophon leisten, also singen sie, sie rappen. Die sogenannte Jazz-Tradition ist schon lange von jungen Guys aus der weißen und schwarzen Mittelklasse übernommen worden. Das war das Ende der Blues-Tradition einfacher Leute, die auf ihre Community orientiert waren. John Coltrane war nicht nur ein Star, er war die allerletzte Blume einer aussterbenden Generation. Wynton Marsalis ist ein Star, er macht eine Million Dollar pro Jahr und Branford vielleicht die Hälfte. Nichts dagegen zu sagen, viele junge Kids orientieren sich heute an ihnen, weil sie Stars sind.
Amiri Baraka sagt, „Black Music ist das Medium unserer Revolution“. Können Sie dem noch zustimmen?
Well, what is Black Music?
Ich dachte, Sie wüßten das...
Nein, ich weiß es wirklich nicht. Ich empfinde die Musik heute überhaupt nicht als „black“. Die Tradition der Black Music ist für mich mit Coltrane zu Ende gegangen. Heute ist „Black“ und „Jazz“ doch nur noch ein Markenzeichen, wie Kleenex oder Pall Mall, und hat nichts mehr zu tun mit der afroamerikanischen Instrumentaltradition zwischen 1917 und 1967. Was heute läuft, ist aus meiner Sicht lediglich retrospektiv, neoklassisch und bourgeois. Haufenweise Leute, die spielen wie Joe Henderson oder Miles Davis.
Was sollte ein junger Saxophonist heute tun? Soll er zu Ihnen kommen und von Ihnen lernen, so wie Sie einst von Coltrane?
Nein, er sollte etwas Geld machen, so wie Branford. Alles hat sich verändert, die sechziger Jahre sind passé. Wir haben uns damals bewußt verweigert, hätten wir Geld machen wollen, hätten wir anderes gespielt.
Obwohl ich mich nicht als Künstler sehe, habe ich gelernt, mit diesem Idiom umzugehen. In der Oral Culture kennen wir keine Künstler, wir kennen bestenfalls Community-Mitglieder, die bestimmte soziale Funktionen in einer Call-and-Response-Tradition erfüllen. Der westliche Künstlerbegriff impliziert jedoch die Trennung von jeglicher Community. Aber wir sollten in diesem Zusammenhang kurz noch auf das Business eingehen. Ich habe mich jahrelang um einen Plattenvertrag mit Columbia Records bemüht. Aber sie hören bis heute nicht einmal meine Demo-Tapes an. Bis heute gibt es viele Leute, die Meinungen über mich haben, weil ich damals dies gesagt oder jenes gespielt habe, Leute, die nicht begreifen können, daß das nur ein Aspekt von mir ist. Ich hoffe, daß ich die Leute erreiche mit der Musik, die ich heute mache, und ich liebe den Blues, das ist eine natürliche Musik für mich. Aber in der Zeit, als ich damals für Impulse/ABC Platten machte, hatten wir eben wesentlich mehr Raum für Kreativität und Inspiration. Sie zahlten mir 15.000 Dollar pro Jahr, ich konnte die besten Musiker der Zeit ins Studio holen und die sorgfältigste Produktion erwarten, die irgend möglich war. Ich hatte Zeit zu schreiben, zu komponieren, zu proben. Das ist im heutigen Plattenbusiness nicht mehr möglich. Das ist passé.
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