■ Rudolf Hickel, Ökonomieprofessor und Schlichter in Sachsen, zur Lohnanpassung für die ostdeutschen Metaller
: „Arbeitsplatzgarantien gab es nicht“

taz: Die Schlichtungsverhandlungen über eine Revision der Lohnanpassung für die Beschäftigten der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie in Sachsen sind gescheitert. Waren die Tarifparteien überhaupt an einer sachlichen Lösung interessiert?

Rudolf Hickel: Beide Tarifparteien hatten ein großes Interesse daran, das Problem ganz fundamental und sachlich auszudiskutieren. Es ging aber in der Schlichtungsrunde letztlich nur um eine einzige Frage: ob der im März 1991 vereinbarte Tarifsprung um 26Prozent zum 1.April realisierbar sei oder nicht. Wäre festgestellt worden, daß diese weitere Stufe der Angleichung an die West- Löhne so nicht vorgenommen werden kann, hätte man ja über die unterschiedlichen Vorstellungen eines neuen Tarifvertrags reden müssen. Dazu ist es aber überhaupt nicht gekommen. Wir haben in einem Verhandlungsmarathon nur über die Frage gestritten, ob der Tarifvertrag durchführbar sei oder nicht.

Sie haben in ihrem Schlichtungsspruch festgestellt, daß auf die im Stufenplan vorgesehene Tariferhöhung nicht verzichtet werden kann – und zwar aus sozialen und ökonomischen Gründen.

Das ist richtig. Die Lohnpolitik steckt in einem tiefen Dilemma. Die Beschäftigten in Ostdeutschland brauchen die Tarifanhebung. Selbst wenn es zu dem Tarifsprung kommt, beträgt nach Berechnungen des WSI-Instituts der effektive Anteil der Ost-Arbeitseinkommen im Vergleich zu dem West-Niveau nur 54,5 Prozent. Zudem hat die 26prozentige Angleichung einen hohen Symbolwert für die Beschäftigten – selbst wenn behauptet wird, daß dadurch Arbeitsplätze verlorengingen. Wäre die Schlichtungsstelle zu einem deutlich niedrigeren Ergebnis gelangt, hätte dies zu einer großen Vertrauenskrise geführt. Beschäftigte wie Arbeitslose würden uns vorwerfen, zum zweiten Mal nach der berühmten Kanzler-Lüge betrogen worden zu sein.

Ist aber das Prinzip Hoffnung nicht etwas wenig für diejenigen, die durch die Lohnangleichung ihre Arbeitsplätze verlieren?

Die Argumente beider Seiten haben für mich gezeigt, daß im Prinzip ein weiterer Beschäftigungsabbau vor allem bei den Treuhandbetrieben im Zuge der Restrukturierung und Sanierung bereits eingeplant ist – und das relativ unabhängig von der Lohnangleichung. An der Dynamik dieses Prozesses wird sich durch den Tarifsprung im Grundmuster nicht viel ändern. Ich habe als Schlichter immer wieder darauf insistiert, von den Arbeitgebern zu erfahren, ob sich zumindest das Tempo des Arbeitsplatzabbaus in Sachsen – wie behauptet – um rund 20.000 verringern lassen würde, wenn man statt der 26 auf neun Prozent heruntergeht. Diesen Arbeitsplatzgewinn infolge eines Lohnverzichts sicherten die Unternehmer nicht zu. Eine Reduzierung des Tarifsprungs wäre nur möglich gewesen, wenn die Arbeitgeber eine Arbeitsplatzgarantie abgegeben hätten – das haben sie aber strikt abgelehnt.

Gibt es überhaupt einen Ausweg aus dem Dilemma?

Daß fast alle der Betriebe in der Verlustzone arbeiten, ist nicht überraschend – es ist ein Ausdruck des Umbauprozesses, das heißt der Suche nach Wettbewerbschancen. Auch daß in vielen Betrieben die Verluste steigen, weil die Erlöse fehlen, ist ebenfalls unbestreitbar. Ich habe als Schlichter einen Weg gewiesen. Aus sozialer und regionalstruktureller Sicht heraus besteht die Verpflichtung, den Stufenplan einzuhalten. Den Betrieben, die dann mangels Umsatz in große Schwierigkeiten kommen, müssen verstärkt Sanierungsbeihilfen gegeben werden. Dahinter steckt die Idee, daß die Betriebe auch in der verlustreichen Sanierungsphase mit einem bestimmten Beschäftigungsniveau weiterarbeiten. Auch das haben die Arbeitgeber strikt abgelehnt. Die Schlichtung befand sich in einer fast erpresserischen Situation: Die Arbeitgeber haben sich auf den Standpunkt gestellt, für weitere Milliardenhilfen aus Bonn und Lockerungen der Geldpolitik müsse die Schlichtungsrunde als Morgengabe eine Revision des Tarifs durchsetzen.

War letztlich der Druck von Regierung, Bundesbank und Konjunkturforschern für das Scheitern ausschlaggebend, die in der Lohnangleichung den Sündenbock für die Misere im Osten gefunden haben?

Die Schlichtung stand unter erheblichem Erwartungsdruck. Ich habe mehrfach darauf hingewiesen, daß die Lohnpolitik völlig überfordert wird. Die Schlichtung wurde eben auch zur Müllkippe für Fehler der Finanz- und Geldpolitik, Fehler, die sich auch in einer weiteren Deindustrialisierung und zunehmender Arbeitslosigkeit niedergeschlagen haben. Hätte eine Industriepolitik stattgefunden, dann gäbe es auch nicht den Druck auf die Löhne. Die herrschenden Wirtschaftswissenschaften haben das Problem der Sanierung und der Lohnpolitik falsch beschrieben – sie übertragen die Gedankenmodelle aus Westdeutschland, mit denen aber eine Lohnpolitik in der Phase der Transformation nicht bestritten werden kann.

Nun hat Helmut Kohl noch einmal die Revision vehement eingefordert. Drohen jetzt gesetzlich vorgeschriebene Öffnungsklauseln?

Der Wirtschaftsminister hat damit während des Schlichtungsverfahrens gedroht. Wir befinden uns jetzt in einer völlig ungeklärten Situation und brauchen deshalb eine intensive Diskussion und einen erneuten Entscheidungsprozeß über die Tariffrage. Dabei darf die sozialstaatliche Tarifautonomie nicht gekillt werden.

Wenn Lohnverzicht keine Arbeitsplätze rettet – wie läßt sich die Pleite dann noch aufhalten?

Auch unter dem enormen Problemdruck sehe ich Möglichkeiten, die sich auf drei Politikbereiche beziehen: Erstens müssen die noch vorhandenen Treuhandbetriebe in branchen- oder regionalbezogene Holdings überführt werden sowie ein Industrie- und Unternehmenskonzept mit dem Spielraum für die Sanierung geschaffen werden. Als zweites brauchen wir eine stärkere Förderpolitik, die sich vor allem auf die Nachfragestabilisierung und Schaffung von Absatzmärkten orientiert. Und wir brauchen ganz dringend einen Ausbau der Arbeitsmarktinstrumente, um Beschäftigung und Einkommen zu sichern und damit auch vernünftige Arbeiten aufzunehmen. Zur Zeit läuft die Entwicklung voll gegen die Wand – und das wird politisch wie ökonomisch katastrophale Rückwirkungen haben. Interview: Erwin Single