In ihrer Verzweiflung über die aussichtslose Lage haben die Bewohner der von Serben belagerten ostbosnischen Stadt Tuzla jetzt zum äußersten Mittel gegriffen. Weil sie von der Außenwelt fast völlig abgeschnitten sind und ein ähnliches Schicksal befürchten wie die Kranken und Hungernden in den umzingelten Städten Cerska und Srebrenica, haben die Verantwortlichen Tuzlas mehrere Waggonladungen hochgiftigen Chlorgases in Richtung Front geschafft und drohen nun, das tödliche Gift „im Notfall“ in die Atmophäre zu entlassen. Aus Tuzla Erich Rathfelder

„Wir machen jetzt Ernst“

Es ist still geworden im Büro der Chemiefirma Sodaso, betreten blicken die Sekretärinnen zu Boden. Ein kräftiger Wind schlägt Schneeflocken an die Fensterscheiben und läßt das Gewirr aus Rohren und Leitungen, aus dampfenden Kühltürmen und Hochhäusern zu einem grauen Brei verschmelzen. Den Mitarbeitern im Chemiewerk von Tuzla ist klar: Sollten die 240 Tonnen Chlorgas, die am vergangenen Freitag von Tuzla an die Front Richtung Brčko gebracht wurden, in die Atmosphäre gelangen, würde jegliches Leben im Umkreis der ersten Kilometer ausgelöscht, müßten in unmittelbarer Nähe der geöffneten Fässer viele Menschen auf grausamste Weise sterben.

Aber das nehmen offenbar die politisch Verantwortlichen im ostbosnischen Tuzla in Kauf: „Wir sind zum kollektiven Selbstmord bereit“, hatte am Morgen des 15.Februar der Regierungspräsident der Region Tuzla, Sadudin Hodzic, erklärt (siehe Interview auf dieser Seite). Hier im Chemiewerk erscheint dieser unvorstellbare Alptraum plötzlich als reale Möglichkeit; denn draußen, irgendwo in dieser naßkalten Industrielandschaft, wird das tödliche Zeug verarbeitet. „Wir machen jetzt Ernst.“ Nazif Imamovic ist zur letzten Konsequenz bereit. Wenn die serbischen Aggressoren nicht zur Vernunft kämen, so der Diplomingenieur, würde das Chlorgas in die Atmosphäre entlassen – in der Hoffnung, der beständig aus nordwestlicher Richtung wehende Wind werde die tödliche Substanz zu den Tuzla belagernden Serben tragen und nicht das Leben der eigenen Leute gefährden.

„Eine kleine Chance haben wir noch“, sagt die Begleiterin auf der Rückfahrt in die Stadt; sie hofft auf die normale Wetterlage. Die Fahrt geht an den riesigen Gebäuden des Salzwerks vorbei, eines der größten im ehemaligen Jugoslawien. Und an der Brikettfabrik. „Sollte irgendetwas schiefgehen, dann lagern hier in den Stollen unter der Stadt noch einmal 250 Tonnen Chlorgas.“ Sie denkt, seit die Entscheidung getroffen wurde, das Gas im Notfall einzusetzen, unentwegt an ihre drei kleinen Kinder. Aber auch ihr ist eins klar: Ohne die Drohung mit dem Gas hätten sie und die anderen Bewohner der Region Tuzla keine Chance zu überleben. „Kämen die Tschnetniks in die Stadt, würden sie uns doch alle umbringen.“

Nur das Zentrum der Stadt hat seinen dörflichen Charakter bewahrt. Denn Tuzla war vor der Industrialisierung nur ein unbedeutender Flecken. Mit der Chemie, mit der Kohle und dem Kraftwerk wuchs die Stadt auf 131.000 Einwohner an. Heute leben hier rund 200.000 Menschen, viele Vertriebene aus Brčko und Bjeljina, aus den „ethnisch gesäuberten“ Gebieten der bosnischen Krajina sind hierhergekommen. Und das, obwohl die Front sich der Stadt von fast allen Seiten auf 20 Kilometer genähert hat. Hier und dort sind die Einschlaglöcher der Artilleriegranaten zu sehen. „Wir haben in den letzten Wochen Terrain zurückerobert“, schmunzelt der Besitzer eines Cafés. „Jetzt geht uns aber die Munition aus. Waffen konnten wir ohnehin immer nur von den Tschetniks erobern, die Welt boykottiert uns ja. Das hat viele hier das Leben gekostet.“

Der kleine Raum mit seinen chromblitzenden Stehtischen ist leer. „Kaum jemand kann sich noch einen Kaffee leisten“, erklärt der Wirt. Den Passanten draußen auf der Straße ist anzusehen, daß die Essensrationen schmal geworden sind. Humanitäre Hilfslieferungen waren bis vergangenen Montag wochenlang nicht nach Tuzla durchgekommen, weil sich auch die kroatischen Politiker der Westherzegowina entschlossen hatten, gegen die von der bosnischen Regierung noch kontrollierte Zone vorzugehen. Durch die Kämpfe in Gornji Vakuf und Busovaca ist Zentralbosnien seit dem 24.Januar von der Außenwelt völllig abgeschnitten. „Selbst die Telefonleitungen haben sie gekappt.“ Infolgedessen richte sich die Drohung mit dem Chlorgas nun ebenfalls gegen die Kroaten. Diese jedoch hätten „am Sonntag die Straße von der Küste hierher wieder freigemacht“, am Montag seien die ersten Konvois des UNHCR mit Lebensmitteln in der Stadt eingetroffen.

Dabei könnte Tuzla leicht einen direkten Zugang zur Welt haben; der Flughafen, acht Kilometer südöstlich der Stadt, liegt inmitten von Wäldern und Hügeln. „Angesichts seiner Lage ist dieser Flughafen weitaus sicherer als der in Sarajevo“, erklärt der Offizier, der den Rundgang leitet. Die Landebahn bietet mit ihren 2.800 Metern Länge Platz genug für Starts und Landungen von Jumbojets. Die Betonpiste ist unbeschädigt geblieben, nur der Tower wurde von abziehenden Soldaten der jugoslawischen Bundesarmee im August 1992 demoliert. „Mit etwa 100.000 Mark könnten wir alles wiederherstellen, sogar die Radaranlagen. Wir verfügen über ausgebildetes Personal, bei gutem Wetter kann auf Sicht geflogen werden.“ Auf die Frage, warum denn der Flughafen nicht geöffnet sei, antwortet er: „Wenn ich das wüßte. Warum die UNO uns nicht hilft, ist mir unverständlich. Sie unterstützt offenbar die Serben. Und die Kroaten der Westherzegowina zweigen 75 Prozent aller Hilfsgüter, die für uns vorgesehen sind, für sich selbst ab, solange sie die Transportwege kontrollieren.“

„Wir meinen es Ernst, wir sind sogar zum Selbstmord bereit. Es gibt keine andere Lösung mehr.“ Meiner Begleiterin stehen die Tränen in den Augen. Der Schnee hat den Feldweg, der über 180 Kilometer und über drei Pässe nach Zenica führt, fast vollständig bedeckt. Die Hauptstrecken sind wegen der Tschetniks unpassierbar geworden; die Piste ist die einzige, wenn auch unsichere Verbindung Tuzlas mit der Außenwelt. Die Bewohner wollen so nicht weiterleben.