Emanzipation nicht in Sicht

■ Weshalb kriegen Jungs in Schulklassen immer noch zwei Drittel der Aufmerksamkeit?

Emanzipation nicht in Sicht

Weshalb kriegen Jungs in Schulklassen immer noch zwei Drittel der Aufmerksamkeit?

2 Mädchen

„Die geschlechtsspezifische Sozialisation beginnt mit der Geburt. Es ist der sogenannte Pirandello-Effekt: Man wird als das angesehen, was man sein soll, und nicht als das,

was man wirklich ist“, sagte Pädagoge Holger Karl gestern auf einer Tagung zum Thema „Koedukation“: gemeinsamer Unterricht von Mädchen und Jungen. Koedukation steht zur Zeit wieder im Rampenlicht, da Forschungsergebnisse und Erfahrungen von LehrerInnen deutlich machen, daß die alten Geschlechterrollen noch immer bestehen. Aus der vielgepriesenen Koedukation sei lediglich eine Ko-Instruktion geworden, die Mädchen an dem Unterricht von Jungs teilhaben läßt, sagte Hilke Emig, Initiatorin der Tagung: „Es ist ein uraltes Beispiel: Jungen erhalten immer noch zwei Drittel der Zuwendung im Unterricht.“ Um den neuen Fragestellungen gerecht zu werden, wurde in Bremen die „Arbeitsgruppe Koedukation“ ins Leben gerufen. Seit einem halben Jahr treffen sich LehrerInnen mit der Beauftragten für Koedukation beim Senator für Bildung und Wissenschaft, Hilke Emig.

Ins Wissenschaftliche Institut für Schulpraxis (WIS) waren gestern 300 PädagogInnen gekommen, die sich den Vortrag von Dr. Marianne Horstkemper über

„Selbstbildentwicklung und Identitätsfindung bei Mädchen und Jungen in der Adolezenz“ anhörten. Aus eigener Erfahrung konnte das Auditorium bestätigen, daß das Ziel der Koedukation, die Emanzipation, bisher nicht erreicht sei. Die Lösung könne aber auch nicht sein, die Geschlechter wieder in Mädchen- und Jungsschulen unterzubringen. Aber: Für bestimmte Fächer und Zeiträume ist Geschlechtertrennung durchaus nützlich.

„Man muß sich mit der Frage auseinandersetzen, weshalb es mir passiert, daß ich Jungen und Mädchen unterschiedlich behandele“, erläuterte Horstkemper. Und: Mädchen brauchen positive Leitbilder: LehrerInnen könnten zum Beispiel eine Klavierlehrerin in den Musikunterricht holen und über Clara Schumann und Fanny Mendelssohn erzählen lassen, oder eine Physikerin einladen.

Das „Arbeiten an sich selbst“ sieht Holger Karl, Mitarbeiter der Heimvolkshochschule bei Minden, als Grundlage für seine Arbeit mit Jungen. Seine Schilderungen war für die meisten ZuhörerInnen eine völlig neue Erkenntnis: Nicht nur Mädchen bräuchten einen Raum für sich. Um ein neues Selbstverständnis der Jungen- (und späteren Männer-) Rolle zu erfahren, müßten auch Jungen eigene Räume bekommen. Antisexistische Jungenarbeit bedeute, daß man Gleichberechtigung anstrebe, erklärte Karl. Bei dieser Arbeit seien Männer gefordert, von denen es im pädagogischen Alltag leider viel zu wenige gibt. So waren denn die absolute Mehrheit, nämlich Frauen, im Auditorium etwas hilflos. „Hierbei dürfen die männlichen Lehrerkollegen nicht aus ihrer Pflicht entlassen werden“, mahnte Horstkemper.

Die Koedukation in allen Bildungsbereichen müsse zunächst überwunden werden, fand Horstkemper, und die geschlechtsgetrennte Arbeit etabliert werden. Das könnte sowohl unterreichtsthematisch getrennte Arbeit sein, als auch eine, die sich mit Mädchen-Sein und Junge-Sein auseinandersetzt. Dies nennt sich „reflexive Koedukation“: „Wir wollen das alte Spiel nicht immer weiter machen“, meinte Holger Karl und erntete tosenden Beifall. vivA