Wenn die toten Juden aufstünden

■ Zeugen - Aussagen zum Mord an einem Volk / Eine Konfrontation mit unserer Vergangenheit

Der Bremer Regisseur Karl Fruchtmann hat vor gut 10 Jahren für Radio Bremen einen zweiteiligen dokumentarischen Spielfilm in Polen und Israel gedreht: „Zeugen“ — Überlebende des Holocaust werden mit ihrer (und unserer) Vergangenheit konfrontiert. Einlieferung in die „Tötungsfabrik“ Auschwitz, (Über-)leben im KZ, das spätere Leben mit dieser Vergangenheit — das sind die Schwerpunkte des Fruchtmann-Films, dessen wichtigste Dokumente die Gesichter der Überlebenden selbst sind.

Am Montag, 22.2.93 um 21.30 Uhr wird „Zeugen“ auf N3 wiederholt, eine Woche später folgt der zweite Teil. Aus diesem Anlaß dokumentiert die taz das Vorwort, das Fruchtmann zu dem Buch „Zeugen — Aussagen zum Mord an einem Volk“ geschrieben hat.

Wenn die toten Juden aufstünden

Zeugen — Aussagen zum Mord an einem Volk / Eine Konfrontation mit unserer Vergangenheit / Von Karl Fruchtmann

1. Statistik

Wenn die toten Juden aufstünden, und jeder sagte bloß seinen Namen und seine Herkunft, würden zwei Jahre vergehn.

Wenn jeder Jude noch meldete, wie er ermordet worden ist: erschossen, erschlagen, erwürgt, vergast, verbrannt, wären vielleicht vier Jahre vergangen. Und wenn sie, angetreten zum Zählappell wie im Lager, abzählten, noch ein Jahr.

Fünf Jahre...

Vielleicht waren es nicht sechs Millionen?

Wenn der letzte Tote meldete: fünf Millionen siebenhundertfünfzigtausend, wäre die Reihe kürzer. Wäre die Schuld leichter? Würden die Toten aufhörn, nach Solidarität zu rufen?

Viele sagen: sechs Millionen, das ist Statistik. Aber die Zahl wird Fleisch und Blut, wenn die Überlebenden aufzählen, wer in ihren Familien ermordet worden ist. Hinter jedem Zeugen stehn gedrängt die Toten, die Statistik wird lebendig.

Sie wird es auch, wenn man sich vorstellt, daß auf jeden zehnten Einwohner der Bundesrepublik ein toter Jude kommt.

Vielleicht ist es falsch von sechs Millionen Ermordeter zu sprechen.

Wir sollten sagen: sechs Millionen mal ist ein Mensch ermordet worden.

2. Der verdorbene Schlaf

Die Mörder schlafen gut.

Aber die ihnen entkommen sind, wachen in den Nächten auf und schrein, und nur die neben ihnen hören sie. Die sind auch Entkommene, sie haben durch Zufall überlebt, den Zufall, der das Gesetz der Selektierten ist. Die Mörder und ihre Nutznießer und Auftraggeber haben vergessen, was ihren guten Schlaf verderben könnte. Aber die Überlebenden müssen daran denken, bis sie sterben

Am Tage folgen ihnen lange Schatten der Nacht. Nachts laufen sie und laufen und rufen: Hilfe! und wachen auf. Die neben ihnen wischen den Schweiß ab und sagen beschwichtigend, wie man zu Kindern spricht: sei ruhig, du hast bloß geträumt, es ist schon gut.

Die Opfer sind gezeichnet, die Mörder nicht.

Oft sind sie einsam. Sie haben jahrelang geschwiegen, weil sie keiner hören wollte. Sie glaubten auch, sie schleppten den Tod mit sich wie eine Krankheit und wollten niemand anstecken. Jetzt wissen sie, es bleibt nicht mehr viel Zeit, und möchten das, was sie allein getragen haben, mitteilen:

Sie entlaufen, dreizehn Jahre alt, in der Nacht, aus der Gaskammer.

Sie haben, aus Schußwunden blutend, Tage und Nächte lang tief unter Leichen gelegen, unter Körpern fast erstickt, im Blut fast ertrunken. Sie haben Tausende in die Gaskammern hineingehen sehn. Eine halbe Stunde später haben sie geholfen, sie, zu Knäulen verknüpft, herauszuziehn und zu sortieren: ein Mann, eine Frau, ein Kind, so brennen sie am besten, und in die Öfen zu schieben.

Sie hängen mit schwarzgebrannten Händen eine Nacht im Draht, die Toten rechts und links. Sie sehen, wie Menschen Stücke von Toten schneiden und essen. Sie haben sich in Kolonnen zu Zehntausenden durch Deutschland geschleppt. Die Bevölkerung hat durch sie hindurchgesehen, so dünn sind sie gewesen. Im verschneiten Land war kilometerweit kein Schnee, sie hatten ihn gegessen. Nur fleckenweise war nocht etwas übrig, das war vom Blute der Erschossenen rot...

Sie reden, weil sie hoffen wollen, daß die Toten nicht umsonst gestorben sind, und daß sie, die Zeugen, nicht umsonst noch leben.

3. Die Trauer der

Überlebenden

Die Zeugen sind schön in ihrer Trauer. Die leugnen und lügen, haben ihr menschliches Gesicht verloren.

Wenn die Zeugen sprechen, klingen ihre Worte in langem Echo nach, die Toten reden mit.

Manche sind wie verreist. Die in den Tötungsfabriken waren als Kinder, leben noch in der Erstarrung der Zeit, als sie, durch die Roste des vielfältigen Mords gefallen, am Leben blieben, während Väter, Mütter und Geschwister unter Musikbegleitung oder stumm in die Vergasung gingen oder gefahren wurden. Sie erzählen, sie hätten nicht mehr weinen können seit der Nacht, in der man ihre Eltern verbrannt hat. Seit dieser Nacht waren sie wie geschrumpft, ihre Menschlichkeit reduziert. Vielleicht konnten sie die Chance des Zufalls, der sie am Leben ließ, nur so nutzen. Sie zogen sich zusammen und wendeten der täglichen Vernichtungsflut nur eine schmale Angriffsfläche zu.

Als sie dann wieder leben lernten, haben sie sich erinnert, und mit dem Erinnern sind aus den Reduzierten ganze Menschen geworden.

Es ist wahr, alles ist schon über fünfunddreißig Jahre her. Aber wer sagt, einmal muß schon Schluß sein, will wieder anfangen. Die heute nichts wissen wollen, wie sie früher nichts gewußt haben wollten, liefern sich der Lüge aus. Die Verkümmerung ihrer Menschlichkeit wird nicht aufgehoben, sie bleiben Reduzierte. Sie fliehen vor Konfrontieren und vor Erinnerung in fixe Ideologien und schieben auf Wörter ab, was sie nicht mittragen wollen

Sie rechnen auf. Die Väter haben die Verantwortung von Tun oder Nichttun, Wissen oder Nichtwissen mit schnell hervorgeholten und aufgezählten Verbrechen der andern zugedeckt. Söhne entlasten sich, indem sie tote Juden wie bei einem Kartenspiel mit ermordeten Indianern als Trumpf stechen. Es ist, als ob die Väter mit andern Stimmen weitersprächen.

Die Kinder und Enkel sind geprägt, wie die Kinder und Enkel von denen geprägt sind, die in den Nächten schrein.

4. Das Faßbare

und das Unfaßbare

Wenn den Zeugen die Mauer des Erlebten, die sie von uns trennt, unübersteigbar scheint, sagen sie: es ist nicht zu fassen... Wer sich nicht mit eiligem Verstehen entziehen will, muß sich manchmal auch 'unfaßbar' sagen, denn das Geschehne übersteigt die Fassungskraft des Kopfes und des Herzens. Aber das Wort kann auch zum Alibi für die Verbrecher werden, wenn es aus Trägheit oder gegen bessres Wissen mißbraucht wird.

Denn die Haare der Vergasten, noch zu besichtigen, sind faßbar.

Das Gold der ausgebrochenen Zähne, das nach Deutschland ging, auch.

Der Profit deutscher Konzerne, die damals gediehen und heute noch mächtiger und rei

Karl Fruchtmann Foto: Wolfram Steinberg

cher sind, ist faßbar. Von den Hunderttausenden, die sie aus den Lagern in die Fabriken holten, sind es nur noch wenige. Die meisten sind verbrannt.

Viele als Muselmanen, die, um Gas zu sparen, lebend ins Feuer geworfen worden sind.

Auch der Nutzen ist faßbar, den Millionen aus der Vertreibung der Juden zogen, und die Beute, die in den ersten Jahren des Kriegs nach Hause kam, als Juden und andre, nackt, ins Genick geschossen, in die Gruben fielen.

Dagegen waren viele Mörder nicht zu fassen. Nicht nur Sadisten und vertierte Chargen der SS, vielmehr auch Herren, bessere Herren, die Hände auf den Hebeln der Macht, traditionsbewußt, autoritätsgeübt, oft humanistisch gebildet, und manchmal sogar musisch aufgeschlossen.

Sie wurden nicht gefaßt.

Hinter dem 'Unfaßbaren' kann sich viel verstecken.

5. Kaffee und Kuchen

Es ist kein tröstender Sinn in der vergangenheit.

Wenn eine Stimme zu denen gesprochen hätte, die sich ausziehn mußten, bevor sie durch die Eisentüre gingen, hätte sie ihnen nicht sagen können, euer Tod hat einen Sinn.

Keine Stimme war zu hören, nur Hundebellen und „schnell! schnell!“, und manchmal ein freundliches Versprechen: „Beeilt euch, auf der andern Seite gibt's Kaffee und Kuchen! „

Ein Zeuge berichtet: am Jom Kippur, dem höchsten Feiertag der Juden, im Jahre 1944 in Ausschwitz, hat Doktor Mengele mit Hilfe einer Meßlatte, 1 Meter 60 hoch, mit einer Querleiste am obren Ende, aussortiert: wer an das Querholz oben anstieß,

hier der Mann

der liest

durfte etwas weiterleben, die Kinder, die darunter durchgehen konnten, mußten in Gas. Später, beim Appell, als sie schon nicht mehr da warn, hat ein Rabbiner aus Ungarn, so erzählt der Zeuge, die Faust geballt zum Himmel hochgehoben und gesagt: „Mein lieber Gott, wenn Du bist, wenn Du da bist, gib ein Zeichen... Hast Du gesehn, was sie mit unsern Kindern gemacht haben? Ist noch ein Gott da im Himmel? Dann antworte! Mach was!“

Es wird nichts von einer Antwort berichtet. Wer könnte den Kindern in die Gesichter sehn, blau von Gas und im Ersticken mit den Nägeln aufgerissen, und ihnen sagen: euer Tod hat einen Sinn. Die Ermordeten sind für die Mörder gestorben.

6. Modell Auschwitz

Viele Zeugen sagen über Auschwitz aus. Aber Züge fuhren Tag und Nacht und leerten ihre Fracht nicht nur in Auschwitz aus, sondern auch in Treblinka, Chelmno, Sobibor und Majdanek und andern Todeslagern.

Die Fracht kam größtenteils noch lebend an. Aber nach kurzer Zeit, nach Stunden, waren alle tot. Ihr Eigentum sortiert, Goldzähne ausgebrochen, die Ringe abgenommen, oft mit den Fingern, und die Körper verschüttet in Gruben oder gestapelt und verbrannt. Die Feuersäulen waren weit im Land zu sehn, das Blut der zugeschütteten schoß in Fontänen hoch, die Erde hob sich mit dem Atem derer, die noch lebend eingegraben waren.

Die Zeugen, die darüber sprechen, sind nur wenige, nur eine Handvoll haben überlebt. Es kann sein, daß diese Todeslager Auschwitz an Schrecken übertroffen haben. Die Möglichkeiten des Leidens scheinen unbegrenzt, gegen sieben Himmel stehn hundert Höllen. Aber Auschwitz ist ein Begriff geworden, die andern Todeslager fast vergessen. Es ist ein Modell in der Gesellschaft, in der es erdacht und betrieben worden ist. Es ist so vielfach mit ihr verbunden, wie der deutsche Faschismus mit dem deutschen Volk.

Es ist ein Sklavenumschlagplatz, die Sklaven werden an die deutsche Industrie geliefert. Und, hauptsächlich, ein Industriekomplex, der Tote produziert. Produktionsmittel und Methoden sind rationalisiert wie in modernen Fabriken. Die Produkte sind tote Juden, Russen, Polen, Franzosen, Zigeuner, deutsche Antifaschisten und andere. Die effizient geplanten und oft fast unpersönlich betriebenen Tötungsfabriken sind einmalig. Zu gleicher Zeit ist aber der moderne Großbetrieb ein wahnsinniges Schlachthaus, in dem engagiert mit irrsinniger Erfindungskraft gefoltert und gemordet wird. Nur ein Teil des Ungeheuerlichen scheint berechnet, um den Störungsfreien Lauf des Fließbands zu garantieren. Aber alle, die die Fabriken betreiben, haben die Institution begeistert oder fraglos und selbstvrständlich akzeptiert und funktionieren und tun, jeder an seinem Platz, das seine, manche auch ohne Haß, doch alle mit dem gleichen Eifer im Dienst, ob sie ihn in der Küche tun, oder ob sie Zyklon B durchs Schüttloch werfen.

7. Eine mögliche

Sinngebung

Vielleicht könnendie Lebenden dem Tod der Opfer einen Sinn geben.

Sie könnten an den aufgeworfenen Gruben die gewehre aus den Händen schlagen, den Stacheldraht um die Vernichtungslager niederreißen und die Wände der Gaskammern durchbrechen, damit die Totennicht alleine sind. Ein Zeuge zählt die Toten seiner Familie auf und sagt, in seine Trauer eingeschlossen: „Da bin ich einer allein geblieben“.

Viele antworten ihm: „Du bist nicht allein.“ Denn der Sinn des Todes der Ermordeten ist die Solidarität der Lebenden.Der Kampf gegen Auschwitz, gegen Faschismus und Krieg und gegen alles, aus dem es hervorgekrochen ist. Keine Gedenkstunden und -wochen geben Sinn. Die Toten bleiben draußen, wenn in Feiern mit Streichquartetten, gesenkten Blicken, bewegt und aus gegebenem Anlaß an sie gedacht wird. Es sind zu viele! Sie platzen aus den Nähten einer Woche des Gedenkens. Taktlos und laut wie immer drängen sie sich vor. Sie wollen nicht im Festakt ausgesiedelt werden.Sie wollen nicht, daß an Gedenktagen ihrer gedacht wird und sie an allen anderen Tagen vergessen sind und ihre Mörder, freigesprochen, in Ehren und in Würden unter ihresgleichen leben.

Seit sie die Duschen von Auschwitz in den gaskammern gesehen haben, deren Köpfe nicht durchlöchert waren und aus denen kein Wasser kam, sind sie hellsichtig gegen Lüge und Täuschung. Wörter wie „Endlösung“ und „Selektion“ haben sie hellhörig gemacht.

Sie wissen es besser, wenn zum Beispiel bei den Feiern, die sie ehren sollen, jemand von der „Machtergreifung“ der Nazis spricht, und damit das Datum meint, als ihnen die Macht zu treuen Händen übergeben wurde. Oder vom „Einbruch der Barberei“, als ob die wie ein Dieb in der Nacht ins Haus gekommen sei, während, in Warheit, ihr die Türen weitgeöffnet waren und sie ins Haus gebeten worden ist. Oder wenn, weihevoll beschwörend, Goethe und Schiller, Beethoven und Bach zum Alibi erniedrigt werden. Sie verweisen auf die Orchester und die klassische Musik, die auf dem Weg zum Zyklon B gespielt wurde, und wollen wissen, wie es zu der Vereinigung von Technik, Wissenschaft und Kunst und Mord gekommen ist. Sie fragen, wie es sein kann, daß so ein reiches Land wie Deutschland so arm an Menschlichkeit gewesen ist. Ein Sinn ihres Todes ist die Verpflichtung zur Wahrheit.

8. Auschwitz und

eine Hoffnung

Auschwitz ist das Ende vieler Illusionen und Lügen.

Der selbstzufriedene Optimismus der Zeit, die mit Auschwitz endete, ist in Rauch aufgegangen. Der Glaube an die Perfektionierbarkeit des Menschen durch die Zivilisation ist in den Öfen verbrannt. Die Himmelsleiter des Fortschritts, die, immer höher, zum Paradiese führte, ist in Stücke geschlagen. Die Gleichsetzung von Bildung und Gesittung mit mehr Menschlichkeit ist eine Lüge, wie die Duschen in Auschwitz. Auschwitz zeigt die unbegrenzte Formbarkeit des Menschen. Das ist sein größter Schrecken.

Viele Zeugen sagen, sie glauben trotz Auschwitz an den Menschen, und antworten, befragt, wie sie das könnten: Wenn esw in dieser Hölle Menschen gegeben hat, die welche geblieben sind, dann kann man an den Menschen glauben. Vielleicht ist ihre Hoffnung und die Formbarkeit der Menschen unsre Hoffnung.