Der Vorhang fiel nicht

Wacker, aber untief: Rainer Mennickens Einführungsbüchlein in die Regiearbeit des Neualtberliners Peter Palitzsch  ■ Von Petra Kohse

Als Bertolt Brecht 1949 mit dem neugegründeten Berliner Ensemble am Ostberliner Theater am Schiffbauerdamm sein episches Modelltheater entwickelte, war Peter Palitzsch als Assistent und Dramaturg bereits mit von der Partie. Der gelernte Grafiker hatte die Programmhefte der Dresdener Volksbühne gestaltet und dort einen Abend mit Brecht-Texten arrangiert. Brecht wurde auf ihn aufmerksam und berief ihn in seinen theatralischen Generalstab nach Berlin. Nach einigen Jahren begann Palitzsch auch zu inszenieren, schon ab 1957 arbeitete er gastweise im Westen. Dort zu bleiben, entschloß er sich wenige Wochen nach dem Mauerbau.

Schockiert von der Teilung Deutschlands, inszenierte er in den nächsten Jahren vorzugsweise in Skandinavien und übernahm erst 1966 die künstlerische Leitung des Stuttgarter Theaters. In Frankfurt, wohin er 1972 mit einem Teil des Ensembles wechselte, versuchte er bis 1980, das Modell eines Mitbestimmungstheaters zu verwirklichen.

Die Beteiligung der Schauspieler an der Verantwortung für die gesamte künstlerische Produktion – bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines regulären Stadttheaterbetriebes – erwies sich aber schließlich als unmöglich. Rückblickend sagt Palitzsch: „Nichts wollte uns gelingen. (...) Der Versuch, eine andere Arbeitsweise zu erforschen, zählte eben einfach nicht. Es gab Leute, die sagten: Wie ihr eure Geschichten zusammenbastelt, ist uns ganz wurscht. Der Vorhang geht auf, und was wir sehen, zählt. Wenn es schlechter ist als das, was wir in Hamburg oder Berlin sehen, dann ist Frankfurt eben schlechter! – Und da ist ja auch was dran.“

Inzwischen ist Peter Palitzsch bekanntlich (als Fünftelintendant neben Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Heiner Müller und Peter Zadek) an den Ausgangsort seiner Regielaufbahn zurückgekehrt, ans Berliner Ensemble, wo der heute 74jährige im letzten Monat mit Shakespeares „Pericles“ eröffnete. „Berlin ist des Messers Schneide, ist Glück, Fluch und Notwendigkeit“, kommentiert Palitzsch diesen späten Neuanfang. Und wenn einer im hohen Alter noch einmal wagt, über die Klinge zu springen, dann ist es Zeit, Rückschau zu halten.

Aber wie? Äußere Entwicklungen lassen sich ja ohne größere Schwierigkeiten benennen, aber wie läßt sich das Spezifische von Palitzschs Arbeit fassen? Kaum kann man die Leistung eines Schauspielers hinreichend beschreiben – um wie vieles komplexer ist das bei der Regie! Die Tageskritik leistet das im Höchstfall punktuell – und auch dann meist nur auf eine Inszenierung bezogen.

Bestrebt, diesem generellen Notstand abzuhelfen, begann Claudia Balk 1989 im Fischer Verlag mit der Herausgabe einer Reihe, die sukzessive das Gesamtwerk der renommiertesten Inszenatoren unserer Zeit auf allgemeinverständlichem Niveau beschreiben soll. Die ersten „Regie im Theater“-Bände waren Peter Zadek, Peter Brook und Klaus Michael Grüber gewidmet. Dem einleitenden Artikel – meist eines Dramaturgen – folgten jeweils ein Interview sowie diverse Stellungnahmen oder Eindrücke von Schauspielern oder Kollegen. Problematisch daran ist von vorneherein, daß die Bücher den theaterinternen Zugriff auf den Regisseur widerspiegeln und viel von der Produktion, aber wenig vom Produkt die Rede ist.

Das Januar-Bändchen dieser Reihe, das sich mit Peter Palitzsch auseinandersetzt, macht da keine Ausnahme. Rainer Mennicken, Dramaturg, Autor, Regisseur und ab diesem Jahr auch Kasseler Intendant, findet für die Arbeit Palitzschs eingängige, aber nur scheinbar aussagekräftige Formulierungen: „Mit sanfter Radikalität bezieht er jeweils dort Position, wo die Widersprüche kulminieren.“ Zwar führt Mennicken im folgenden an, was inszeniert wurde und vielleicht auch noch warum, aber dem Kern, dem Wie, bleibt er fast ebenso fern wie seine Vorgänger.

Fast. Weil am Ende seines Aufsatzes doch noch ein verständnisfördernder Zugriff auf das Sujet gelingt. Dann nämlich, wenn er von Palitzschs „Warten auf Godot“-Inszenierung 1991 in Frankfurt erzählt. Nach den letzten Worten von Wladimir und Estragon („Wir gehen?“ – „Gehen wir!“) passierte damals nichts. Das heißt: der Vorhang fiel nicht. Und das Publikum wartete bei der Premiere eine halbe Stunde, klatschend, rufend oder lachend, bis es aus dem Theater tröpfelte. Palitzsch, Becketts letzte Regiebemerkung („Sie gehen nicht von der Stelle.“) beim Wort nehmend, hatte beschlossen: „Didi und Gogo bleiben einfach stehen. Nichts weiter. Sie können nicht anders, denn sie warten auf Godot. Und das müssen die Zuschauer erfahren, nicht nur aus dem Text, nein, sie müssen erleben, was das ist: Warten.“

An diesem kleinen und einfachen Beispiel werden die gegenseitigen Bezüge von Text, Inszenierungswille und Ergebnis transparent gemacht. Und genau das ist es doch, was man sich erhofft, wenn man – vielleicht Jahre nach dessen letzter Inszenierung – ein Buch über einen Regisseur aufschlägt.

Das anschließende Interview mit Peter Palitzsch illustriert seine Lebens- und Schaffensperiode nur noch einmal, benennt die lebenslange Auseinandersetzung mit Brecht und ist ansonsten angenehm uneitel. Im Hinblick auf die Persönlichkeit Palitzschs aufschlußreich sind auch die kurzen Texte von Käthe Rülicker-Weiler, Liv Ullmann, Peter Roggisch, Elisabeth Schwarz und Hans Neuenfels. Größtes Verdienst ist, wie schon bei den vorangegangenen Bänden, das komplette Inszenierungsverzeichnis mit Besetzungsangaben.

Insgesamt steht Mennicken mit diesem Buch in der wackeren Tradition der sicher schnell verfaßten und schnell lesbaren Reihe und belegt einmal mehr, wie schwer sich Regie in Worte fassen läßt. Petra Kohse

Rainer Mennicken: „Peter Palitzsch“, Fischer Verlag 1993, 144 Seiten, 19,90 Mark