Gelenkte sinnliche Erfahrung

■ Gerichtsurteil stört die Strategie der irischen Regierung zur Tourismusentwicklung

Auf den ersten Blick sieht das Gebiet wie eine Mondlandschaft aus: graue Steinhügel und helle Kalksteinplatten, soweit das Auge reicht. Der Name dieser Gegend im Westen Irlands scheint es treffend auszudrücken: Burren – vom irischen Wort boireann, was „felsiger Ort“ bedeutet. Schon Oliver Cromwells Offiziere behaupteten vom Burren: „Zu wenig Bäume, um einen aufzuhängen, zu wenig Wasser, um einen zu ersäufen, zu wenig Erde, um einen zu verscharren.“

Wer genauer hinsieht, entdeckt jedoch eine landschaftliche Vielfalt, die einmalig in Europa ist. In dem knapp tausend Quadratkilometer großen Gebiet wachsen Anemonen, Moose, Klee, Zwergrosen, Kreuzblumen, Veilchen, Enzian, Schlüsselblumen und Orchideen. Pflanzen aus dem Mittelmeerraum, aus den Alpen und der Arktis gedeihen einträchtig nebeneinander. Ein besonderes Phänomen sind die Senken, die im Winter von unterirdischen Quellen geflutet werden und im Sommer austrocknen. Die ökologisch hochsensible Karstlandschaft hat sich in der Karbonzeit vor 350 Millionen Jahren gebildet. Geologisch gesehen ist das Gebiet also relativ jung. Vor 15.000 Jahren haben Gletscher den Burren dann mit tiefen Spalten durchfurcht. Als das Eis zurückwich, blieben die Felsbrocken, aber auch Erde und Samen aus arktischen Regionen zurück.

Im „Burren Display Centre“ in Kilfenora am Rande des Burren können sich Touristen über die Geschichte der Landschaft und ihre Besonderheiten informieren. Den irischen Tourismus-Strategen reichte das jedoch nicht. Um das Gebiet besser vermarkten zu können, wollten sie ein weiteres „Interpretations-Zentrum“ nach Mullaghmore mitten in den Burren setzen. Eine schöne Zufahrtsstraße und ein geräumiger Parkplatz sollten dafür sorgen, daß Besucher von der Theorie – der Filmvorführung im Zentrum – sogleich zur Praxis – einem Spaziergang durch den Burren – schreiten könnten.

Der Traum ist am vergangenen Wochenende jäh unterbrochen worden. Dafür hat die Entscheidung eines Dubliner Gerichts gesorgt, die zu einem Präzedenzurteil werden könnte. Richter Costello entschied nämlich, daß das Amt für öffentliche Bauten, das in fast jedem Winkel der Insel „Interpretations-Zentren“ errichten will, nicht nur eine Baugenehmigung wie jeder andere auch benötigt, sondern darüber hinaus durch kein Gesetz dazu ermächtigt ist, irgendwelche Bauaufträge zu vergeben. Der Richter zweifelte sogar die Existenzberechtigung des Amts an. Er bezeichnete das Amt als „veraltete Verwaltungsmaschine“, die Funktionen ausüben soll, für die sie gar nicht eingerichtet sei. Costellos Urteil setzt einen vorläufigen Schlußpunkt unter den Streit zwischen dem Amt und den Umweltschützern von der „Burren Action Group“. Dieser wird bereits seit zwei Jahren verbissen ausgetragen.

Die Behörde hatte sich aus einem einfachen Grund für Mullaghmore als Standort entschieden: Der Staat besitzt dort 800 Hektar Land, die ursprünglich als Kern für einen Nationalpark vorgesehen waren. Dadurch sollten „unsensible Bauprojekte“ verhindert werden. Indem man das Gelände, wo Blumenpflücken übrigens streng bestraft wird, dem Amt für öffentliche Bauten überließ, machte man jedoch den Bock zum Gärtner. Das Amt hat sich – ebenso wie die staatliche Baubehörde – noch nie um demokratische Spielregeln geschert. Vielmehr schuf es stets vollendete Tatsachen, bevor Proteste den Beamten einen Strich durch die Rechnung machen konnten.

Bereits 1963 fiel ein georgianischer Straßenzug in der Dubliner Innenstadt dem abgrundtief häßlichen Verwaltungsgebäude der Elektrizitätsgesellschaft zum Opfer. Das war jedoch lediglich der Auftakt: Seitdem haben Baulöwen und Bodenspekulanten mit Hilfe ihrer beamteten Komplizen in der Innenstadt ein Werk der Verheerung angerichtet. Abbruchreife Steinhülsen, Brachland und durch Kahlschlagsanierung entstandene Parkplätze prägen inzwischen das triste Stadtbild. Der Dubliner Musiker Bob Geldof sagte: „Die Zerstörung Dublins ist eine furchtbare Barbarei, das Werk von Gierigen, Korrupten, Dummen, Einfallslosen, Mittelmäßigen, Geschmacklosen, Vulgären – aber primär das Werk von Indifferenten.“

Der bisher traurige Höhepunkt kam im Jahr 1978. Bei den Aushebungsarbeiten für zwei Büroblöcke der Dubliner Stadtverwaltung am Ufer der Liffey stießen die Bauarbeiter auf ein altes Wikingerdorf. Die Entdeckung erregte internationale Aufmerksamkeit, handelte es sich dabei doch um den bedeutendsten Fund aus der Wikingerzeit. Ein Gericht stellte das Wood-Quay-Gelände unter Denkmalschutz. Nur wenige Wochen später gab das Amt für öffentliche Bauten heimlich die Anweisung, das neue Denkmal zu zerstören. Als im September 1978 mehr als 20.000 Menschen für die Erhaltung Wood Quays demonstrierten, war die Entscheidung längst hinter verschlossenen Türen gefallen. Die Stadtverwaltung hatte bereits einen Bauvertrag über 6,7 Millionen Pfund unterzeichnet und warnte die Stadträte, daß sie persönlich haftbar gemacht würden, sollte der Bau gestoppt werden. Um dem Zynismus die Krone aufzusetzen, ließ die Verwaltung nur einen Steinwurf von Wood Quay entfernt ein „originalgetreues Wikingerdorf“ in beheiztem Saal nachbauen.

Der Fall Wood Quay weist zahlreiche Parallelen mit Mullaghmore auf. Auch im Burren steht viel Geld auf dem Spiel, da der Staat bereits drei Millionen Pfund in das Projekt investiert hat. Die Europäische Gemeinschaft wollte 75 Prozent der gesamten Baukosten beisteuern. Zwar hatte der Europäische Rat im vergangenen Jahr in einer Resolution die Erhaltung des Gebietes gefordert, doch die Europäische Kommission genehmigte im Oktober den Bau des Besucherzentrums. Sie akzeptierte den „Umwelt-TÜV“ der irischen Regierung und machte nur geringe Auflagen. Die staatliche irische Naturschutzorganisation An Taisce warf der Kommission deshalb vor, sie habe politischem Druck nachgegeben und ihre eigenen Umwelt-Richtlinien ignoriert.

Als ein Gericht im Dezember den Antrag der Naturschützer ablehnte, den Bau per einstweiliger Verfügung zu stoppen, war das Amt für öffentliche Bauten nicht mehr zu bremsen – zumal nach den Parlamentswahlen ein Regierungswechsel drohte, durch den das Prestigeobjekt gefährdet worden wäre. Der Chef des Amtes, Staatssekretär Noel Dempsey, ordnete deshalb mitten im Winter den sofortigen Baubeginn an, um das Gericht vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die erste Bauphase ist inzwischen abgeschlossen, doch Richter Costello ließ sich von diesen Tatsachen nicht beeindrucken.

Möglicherweise muß Irland nun die für Mullaghmore kassierten EG-Gelder zurückzahlen – freilich ist Dempsey dafür nicht persönlich haftbar.

Die Regierung will nun gegen das Urteil Berufung einlegen. Sollte das Urteil von der nächsten Instanz bestätigt werden, steht das gesamte Regierungsprogramm zur Förderung des Tourismus auf dem Spiel. Die staatlichen Stellen müßten sich dann auf Klagen gegen 50 weitere Projekte gefaßt machen. So weit ist es freilich noch nicht. Die Gefahr, daß die irische Regierung durch Gesetzesänderungen den Kopf aus der Schlinge zieht und die Insel doch noch in einen gigantischen Folklorepark verwandelt, ist längst nicht gebannt. Inzwischen wird sogar schon über eine Gesetzesänderung diskutiert, die der Behörde eine generelle Baugenehmigung erteilt.

Tourismus gehört zu den wichtigsten Einnahmequellen der „Grünen Insel“. Martin Dully, der Vorsitzende der irischen Fremdenverkehrszentrale, sagt, daß 37 Prozent aller neuen Arbeitsplätze seit 1988 dem Tourismus zu verdanken seien. Allerdings, und das verschweigt Dully, sind viele dieser Jobs schlecht bezahlt und saisonabhängig. Doch immerhin hat der Tourismus einen Anteil von 7 Prozent am Bruttosozialprodukt. 1987 stellte die Regierung einen Fünfjahresplan mit dem Ziel auf, die Zahl der Touristen in diesem Zeitraum zu verdoppeln. 1990 war das bisher erfolgreichste Jahr: 3,069 Millionen Menschen kamen nach Irland – fast eine Million mehr als noch 1988. Seitdem ist die Zahl zwar um 2,3 Prozent gefallen, doch die Einnahmen aus dem Tourismus stiegen gleichzeitig um 7,3 Prozent. Die Regierung zog die Lehre aus dieser Statistik: Im neuen Fünfjahresplan geht es weniger um die Zahl der Besucher als um das Geld, das sie ausgeben. 1992 waren es 910 Millionen Pfund. Bis 1997 soll dieser Betrag auf 1,465 Milliarden steigen. Dadurch, so hofft man, werden 35.000 neue Jobs geschaffen.

Da die Touristen nicht mit Sonne und Strand auf die Insel zu locken sind, hat die Tourismus-Industrie das kulturelle und historische Erbe zum Angelpunkt ihrer Taktik gemacht. Darunter fallen die Nationaldenkmäler, die von etwa 4,5 Millionen zahlenden Gästen im Jahr besucht werden, aber auch die Burgen und Landsitze sowie die landschaftlichen Reize. Das Problem ist jedoch, daß Irlands Geschichte furchtbar kompliziert ist und von Invasionen, fehlgeschlagenen Aufständen und blutigen Schlachten nur so strotzt. Für Touristen ist das schwer durchschaubar. Deshalb beauftragte die Fremdenverkehrszentrale vor drei Jahren eine englische Beratungsfirma mit der Entwicklung einer Strategie.

Die Berater, die innerhalb von einer Woche 110 Orte von touristischer Bedeutung aufsuchten, kamen zu dem Ergebnis, daß Irlands Erbe rationalisiert werden müsse. Den Besuchern kann es dann in leicht verdaulichen Häppchen verabreicht werden. Die englische Firma schlug vor, Irlands Erbe in fünf große Schubladen zu unterteilen: Landschaft, der Kampf ums tägliche Brot, Religion, Streben nach Unabhängigkeit und die „irische Seele“. Jede dieser Schubladen ist in ein halbes Dutzend Fächer unterteilt. Das Thema „Landschaft“ gliedert sich zum Beispiel in Land und Meer, Berge und Hochebenen, Klippen und Höhlen, Moore und Sümpfe, Flüsse und Seen sowie Pflanzen- und Tierwelt. Nur solche Projekte, die in dieses Schema hineinpassen, werden staatlich gefördert.

Doch gerade die Landschaft, eine der wichtigsten Attraktionen für ausländische Besucher, gerät immer mehr ins Hintertreffen. Schuld daran sind verschiedene Faktoren: eine Flut von Golfplätzen, die manchmal mitten in einem Nationalpark angelegt werden, intensive Landwirtschaft und die explosionsartig gestiegene Zahl von Schafen, die Feriendörfer, die wie Pilze aus dem Boden schießen und im Winter leerstehen, die architektonisch scheußlichen Bungalows, von denen allein in den achtziger Jahren 95.000 Stück gebaut wurden, und schließlich das extensive Programm für Straßenverbreiterungen, das zum Großteil von der EG finanziert wird.

Vor Ort stoßen Straßenbau, Golfplätze und Interpretations- Zentren bei der Bevölkerung und bei der Lokalverwaltung auf wenig Kritik, weil man sich davon Einnahmen und Arbeitsplätze für die jeweilige Region erhofft – kein Wunder, beträgt die Arbeitslosigkeit landesweit doch über 20 Prozent. Doch die Entwicklungspläne der Tourismus-Industrie sind kurzsichtig, weil sie auf die schnelle Mark setzen und langfristige und möglicherweise irreparable Schäden ignorieren. Ciaran O'Connor, einer der wenigen kritischen Köpfe im Amt für öffentliche Bauten, warnt, daß Kultur dadurch auf eine Ware reduziert wird und „die Touristen wie Würstchen auf einem Fließband verarbeitet“ werden.

Der weltweite Trend in Richtung Kunstwelten geht auch an Irland nicht vorüber. „Celtworld“ im Süden des Landes ist eine elektronische Peep-Show, die Einblick in die Welt der Kelten gewähren soll. Im Nationalpark Ferrycraig in der Grafschaft Wexford hat man eine normannische Verteidigungsanlage nachgebaut, doch gleichzeitig wurde in der benachbarten Grafschaft Kilkenny eine echte normannische Verteidigungsanlage plattgewalzt. Und Tony Christopher von der US-amerikanischen Unterhaltungsfabrik Landmark in Hollywood schlug vor, eine Art Mini-Disneyland zu bauen, das auf Finn Mac Cool, dem Helden aus der irischen Mythologie, basiert.

Zwar ist man in Irland noch nicht so weit wie in Wales, wo der Kurort Llandrindod in einen viktorianischen Themenpark verwandelt werden soll, in dem die Bewohner während der Touristensaison viktorianische Kostüme tragen, doch Irland hat immerhin seine „Themen-Städte“. Sie sind Teil des Fünfjahresplans und müssen ebenfalls in das Schubladensystem passen. Bei der Verleihung des Titels reicht es nicht aus, daß die betreffende Stadt über eine traditionsreiche Vergangenheit verfügt, sondern sie muß die Tradition zur Schau stellen. Das beschränkt sich in den meisten Fällen darauf, in den Einkaufsstraßen die Plastik- Geschäftsfronten durch neo-traditionelle Fassaden zu ersetzen, während die erhaltenswerten alten Gebäude aus Geldmangel verfallen. Irland ist das einzige EG-Land, das die Erhaltung oder Restauration historischer Gebäude in Privatbesitz nicht subventioniert.

Statt dessen fließt viel Geld in die Interpretations-Zentren. Diese Einrichtungen schnüren nicht nur Kultur, Geschichte und Landschaft in kleine Päckchen, sondern filtern auch die sinnlichen Erfahrungen und lenken sie in geordnete Bahnen. Susan Sontag schrieb bereits vor 30 Jahren: „Interpretation ist die Rache des Intellekts an der Welt. Zu interpretieren heißt, die Welt auszusaugen und zu entleeren – um eine Schattenwelt der Bedeutungen zu schaffen.“ Und der irische Journalist Fintan O'Toole erinnert an Jorge Luis Borges' Geschichte von dem Herrscher, der von der Vorstellung einer detaillierten Landkarte seines Reiches besessen ist. Seine Kartographen stellen schließlich eine Karte im Maßstab 1:1 her, unter der das gesamte Land verschwindet. „Wir können in Irland noch eine Verfeinerung anbieten“, sagt O'Toole. „Wenn die Karte über die Landschaft ausgebreitet ist, bauen wir darauf ein paar Interpretations- Zentren, damit wir Besuchern die Bedeutung erklären können.“