■ Mit Chinas Marktwirtschaft auf du und du
: Mao als Maskottchen

Berlin (taz) – Wenn es nach der amtlichen Statistik geht, ist China das Wirtschaftswunderland der Erde. Traumhafte Wachstumsraten, kapitalistische Paradiese im Süden, eine aufstrebende Klasse von Kleinunternehmern – im kommunistischen China scheint, zumindest wenn man den offiziellen Stimmen folgt, die Devise des alten Mannes Deng Xiaoping voll aufzugehen. „Sozialismus bedeutet gemeinsam reich werden“, hat dieser dem Milliardenvolk als Losung ausgegeben. Die neureiche Schicht trägt ausländische Statussymbole zur Schau; die Zeitungen des Landes haben bereits eine Konsumwelle in den Großstädten und Sonderwirtschaftszonen des Landes ausgemacht.

Der Boom im Reich der Mitte ist ungebrochen: Um 12,8 Prozent wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) allein im vergangenen Jahr nach dem am Donnerstag veröffentlichten Jahreswirtschaftsbericht des Staatlichen Statistischen Amtes. Die Industrie konnte mit 20,8 Prozent die höchste Zuwachsrate seit Beginn der Wirtschaftsreformen aufweisen. Ausschlaggebend dafür ist der wachsende Anteil der Privatwirtschaft: Die nichtstaatlichen Unternehmen einschließlich der Kollektivbetriebe und Gemeinschaftsunternehmen, die schon in den vergangenen Jahren Wachstumsraten von mehr als 30 Prozent vorlegen konnten, erzielten 1992 zusammen einen Zuwachs von 49,8 Prozent– über dreimal so hoch wie die Raten des staatlichen Industriesektors. Der Anteil der nichtstaatlichen Betriebe am BIP, das auf einen Rekordstand von 2.393,8 Milliarden Yuan (rund 684 Mrd. Mark) kletterte, erhöhte sich auf rund 61 Prozent. Die Staatsunternehmen, die meist mit Verlusten arbeiten, machen nur noch ein Drittel der erwirtschafteten Leistungen aus– kalte Privatisierung nennt man das. Angesichts der massiven Finanzprobleme der Staatsindustrie – nach den offiziellen Angaben blieben 1992 durch Betriebsschließungen rund 100.000 Arbeiter auf der Strecke – dürfte die Bedeutung des staatlichen Sektors weiter rapide abnehmen.

In welchem gigantischen Umbauprozeß sich Chinas Wirtschaft derzeit befindet, zeigen auch die anderen Zahlen: Während die Landwirtschaft weiter stagniert, legten das Bau- und Transportwesen sowie der Handel im letzten Jahr um 36,9 Prozent zu. Auch der rasch expandierende Dienstleistungssektor wuchs um 9,2 Prozent. Dennoch verläuft der sektorale Strukturwandel äußerst langsam; noch immer arbeiten über die Hälfte der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. Aber das Auseinanderklaffen von ländlicher und städtischer Wirtschaft, das ein deutliches Gefälle im Einkommens- und Konsumniveau mit sich gebracht hat, verstärkt die Migration in die industriellen Zentren, wo das Pro- Kopf-Einkommen deutlich gestiegen ist. Es liegt in den Städten bei 1.826 Yuan (521 Mark), während die Bauern im Schnitt nur 784 Yuan verdienen.

Tatsächlich hat die seit nunmehr vier Jahren auf Hochtouren laufende Wirtschaft hohe, oft unrealistische Erwartungen in der Bevölkerung geweckt. Doch die Konjunktur, das haben selbst die Statistiker gemerkt, zeigt bereits deutliche Anzeichen einer Überhitzung. In den städtischen Gebieten hat die Inflation im letzten Jahr die Elf-Prozent-Marke überschritten; landesweit waren es 6,9 Prozent. Es wird übermäßig viel in Anlagevermögen investiert, und die Geldmenge nimmt rapide zu. Auch blüht der „Sozialismus chinesischer Prägung“ im Süden und in den Städten mit all den Exzessen eines zügellosen Manchester-Kapitalismus voll auf: Ausbeutung und Spekulation, Korruption und Repression. Doch gegen die neuen Gefahren haben die Chinesen bereits ein Heilmittel gefunden: den „großen Steuermann“ Mao als Talismann. Erwin Single