Gesellschaftsprojekt Konversion

In Rußland hat die Konversion des militärisch-industriellen Komplexes noch nicht begonnen/ Rüstung prägt Dreiviertel der Industrie  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Eduard Woinitsch hört sich recht zuversichtlich an. Er vertritt die kleine Aktiengesellschaft „Prin“ auf der internationalen Messe „Conversion 92“ in Moskaus verschneitem Sakolniki Park. Zu ihren Sponsoren gehören die UN-Organisation für industrielle Entwicklung UNIDO, die deutsche Firma Glahe International und einige russische Unternehmen. Vor zwei Jahren gründete eine Reihe Wissenschaftler und Ingenieure aus einem Rüstungunternehmen den kleinen Betrieb. Heute ernährt er rund zwanzig Angestellte. Sie hatten Erfolg mit dem Bau eines Geodäsie-Gerätes, das die Kartographierung erleichtert und präzisiert. „Wir hoffen bald noch mehr davon zu verkaufen, wenn die Landreform endlich in Angriff genommen wird“, meint Woinitsch.

In der Tat könnte sich „Prin“ mit diesem Gerät eine goldene Nase verdienen. Weite Teile Rußlands wurden aus Geheimhaltungsgründen bisher nicht kartographiert. Auch für eine private Landwirtschaft wäre dieses Gerät von großem Nutzen. Doch es ist eben nicht alles Gold, was glänzt.

Obwohl die Firma ihr Auskommen hat, leidet nämlich auch „Prin“ an einem typischen Problem russischer Firmen. Sehr oft fehlen ihnen technisches Know- how und Produktionsmöglichkeiten, um ihr Produkt ganz und gar in Eigenregie herzustellen. Software und Platinen bezieht „Prin“ aus den USA – gegen harte Währung natürlich.

Daß der Betrieb trotzdem Gewinn macht, hängt vor allem mit dem astronomischem Umtauschkurs des Dollars zusammen. Zwei für Dollars verkaufte Geräte, und die Belegschaft kann davon ein Jahr lang zehren. Mit marktwirtschaftlicher Effektivität hat das natürlich wenig zu tun.

Auch große Konzerne des militärisch-industriellen Komplexes sind auf der „Conversion 92“ vertreten. Sie setzten aber nicht wirklich auf den Markt. In der Praxis erwarten die mächtigen Direktoren des zeitlebens gehätschelten militärisch-industriellen Komplexes vom Staat die Übernahme der immensen Umstellungskosten.

Und der hat kein Geld. Schon 1988 hatte Michail Gorbatschow den Umbau der sowjetischen Rüstungsindustrie angekündigt. Rußlands Präsident Boris Jelzin bekräftigte im Frühjahr 92 seine Entschlossenheit zur Konversionspolitik mit einem Dekret zur „Konversion der Verteidigungsindustrie in der Russischen Föderation“. Michail Maley, Jelzins Beauftragter in Sachen Konversion, und Michail Baschanow, der Vorsitzende des staatlichen Konversionskomitees, veranschlagten kürzlich die Kosten auf 150 Milliarden US Dollar, verteilt über einen Zeitraum von 15 Jahren. Das Geld könne aber nicht aus dem Haushalt genommen werden. Schon jetzt weist der ein Defizit auf, das die Auflagen des Internationalen Währungsfonds erheblich übersteigt. Rußland droht eine Hyperinflation.

Nicht mehr einig waren sich beide, wie schnell der russische Rüstungssektor umprofiliert werden soll. Maley plädiert für 70 Prozent in den nächsten vier Jahren. Baschanow schlägt einen wesentlich vorsichtigeren Kurs ein. Drei Prozent der Unternehmen pro Jahr umzustellen sei das Maximum.

Unabhängig vom Tempo der Umstellungen liegt eine gigantische Aufgabe vor den Praktikern. Denn der ehemalige sowjetische militärisch-industrielle Komplex ist mehr als nur ein spezifischer Industriezweig. Westliche Experten schätzen die Rüstungsausgaben in den letzten Jahren der UdSSR auf 15 bis 20 Prozent des Bruttosozialprodukts. Ein Drittel der industriellen Arbeitnehmerschaft arbeitet in der Rüstungsindustrie. Ganz zu schweigen von den 80 Prozent der Wissenschaftler, die direkt im Rüstungssektor tätig sind.

Ein Fünftel des gesamten sowjetischen Energieaufkommens verschlang der Moloch. Zwei Drittel des Maschinenbaus unterstanden ihm direkt oder indirekt. Russische Quellen weisen für die neuere Zeit ähnliche Verhältnisse aus. Maley sprach kürzlich von vier Millionen russischen Arbeitern, die direkt im Rüstungskomplex beschäftigt sind. Hinzu kommen allerdings noch 12 Millionen Arbeitnehmer, die aus dem zivilen Sektor zuarbeiten. Mit Familienangehörigen hängen zwischen 30 und 37 Millionen Menschen von der russischen Rüstungsindustrie und deren Auftragslage ab.

Konversion bedeutet daher in Rußland etwas anderes als in westlichen Industriestaaten: Mit Dreiviertel der Produktion ausgerichtet auf den Verteidigungskomplex, kommen die angelaufenen Wirtschaftsreformen einer universellen Konversion gleich. Die gesamte industrielle Struktur muß konvertiert werden. Das erklärt sowohl das Zögern und die Ratlosigkeit der Regierung als auch den Widerstand der Industriedirektoren gegen Veränderungen.

Mit Recht weist der Technologieexperte Igor Skljarow auf die Unterschiede zwischen der amerikanischen und der russischen Rüstungsindustrie hin: In den USA reichte 1986 eine einfache Haushaltsmaßnahme, um Konversion in erheblichem Umfang anzustoßen. Die finanziellen Mittel wurden gekürzt oder ganz gestrichen. Bis 1991 schieden über 100.000 kleine und mittlere Betriebe aus dem Rüstungsbereich aus. „Womit sie sich weiter beschäftigen, ist ihre eigene Sorge, und sie nehmen es als etwas Selbstverständliches hin“, so Skljarow.

In Rußland verhält es sich genau andersherum: „Nicht die Konversion fordert die gewaltigen Mittel, es sind die Verantwortlichen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Mittel dazu genutzt werden, um eine echte Konversion nicht zuzulassen.“

Die letzten Jahre dienen ihm als Beweis. Obwohl der russischen Industrie reichlich Gelder für die Konversion zur Verfügung gestellt wurden, überstieg die Produktion auch 1991 noch den Output der USA um ein Vielfaches. Bei Panzern viereinhalbmal, bei Kanonen neunmal soviel. Und das, obwohl gerade die Herstellung traditioneller Waffensysteme – Panzer, Munition, Flugzeuge und Hubschrauber – erheblich gekürzt werden sollte.

Skljarow hält eine ganzflächige Umstellung der Rüstungskonzerne für ziemlich aussichtslos. Solche Stimmen häufen sich. Auch der Wirtschaftswissenschaftler Professor Dykin plädierte vor kurzem in der Iswestija in diese Richtung. „Der Prozeß der Konversion hat noch nicht einmal begonnen.“ Es sei notwendig, einen bedeutenden Teil der Fabriken einfach zu schließen. Die Löhne müßten weiter gezahlt und die Belegschaften sollten umgeschult werden. Für einen Großteil der Unternehmen sei die Umstellung äußerst kompliziert.

Auch der bekannte Publizist und Ökonom Seljunin stieß in die gleiche Kerbe. Er will den Arbeitern ihr Einkommen sichern und sie von der Arbeit freistellen. Hauptsächlich kommt es darauf an, der ungeheuren Verschwendung an Energie und Rohstoffen Einhalt zu gebieten. Von dem Erlös der Rohstoffe zu Weltmarktpreisen können die Unternehmen allein überwintern. Das gilt übrigens auch für viele ineffektiv arbeitende Betriebe der Leichtindustrie, deren Direktoren sich heute gegen die Privatisierung sträuben.

Bei alldem sind die mentalen Probleme noch nicht einmal berücksichtigt. Die hochqualifizierten Arbeiter und Spezialisten des Militärkomplexes werden sich nur unter größten Schwierigkeiten auf etwas anderes einlassen. Bisher arbeiteten sie unter Sonderbedingungen. Mangel kannten sie nicht. Persönlich genossen sie Privilegien und waren wohlhabender als Beschäftigte in der Zivilproduktion. Der Komplex funktionierte wie eine „Kriegsmaschine“, mit ihren spezifischen Kommandostrukturen. Daran sind sie gewöhnt, und deshalb werden sie bis zum letzten für Rüstungsaufträge kämpfen.

Den härtesten Widerstand leisten ihre Direktoren und die oberen Verwaltungsbeamten. Würden die Werke tatsächlich geschlossen, fänden sie kaum irgendwo eine vergleichbare Aufgabe. Ihrem Unmut machten sie im letzten Jahr wiederholt Luft, indem die Industriellenlobby die Regierung Jelzin erheblich unter Druck setzte, Regierungsbeteiligung und saftige Kredite forderte. Westliche Geschäftsleute, die an einer Zusammenarbeit mit russischen Unternehmen Interesse zeigen, klagen nach wie vor über die Immobilität gerade dieser Kreise und ihre ideologisch bedingte Geheimnistuerei. Vor allem aber erwarten sie von jeder Seite Hilfe – vom Staat oder ausländischen Firmen. Sie sind Opfer der Versorgungsmentalität. Konversion in Rußland ist kein Problem eines spezifischen Wirtschaftszweiges, es ist ein gesamtwirtschaftliches Mammutprojekt.