: Schweben und doch nicht entwurzelt sein
Gesichter der Großstadt: Bosiljka Schedlich leitet das Süd-Ost-Europa-Kultur-Zentrum, wo zerstrittene Ex-Jugoslawen den Dialog suchen und Kriegsflüchtlinge wieder leben lernen ■ Von Corinna Raupach
Eigentlich wollte Bosiljka Schedlich zurückkehren zu ihren Büchern, zur Philosophie, den russischen Dichtern, die sie so liebt. Sie hatte eben ein Ausstellungsprojekt über die Situation von Gastarbeiterinnen abgeschlossen.
Statt dessen verbringt sie jetzt ihre Tage und meist auch die halben Nächte in ihrem Büro, als Leiterin des Zentrums Süd-Ost-Europa-Kultur. Auf dem weißlackierten Schreibtisch stapeln sich Rechnungen, Zeitschriften, Konzepte, Briefe und zu verschickende Einladungen. Das Telefon klingelt ständig, ein Mann holt eine Übersetzung ab, eine Familie muß zum Arzt begleitet werden, einer der Künstler aus der Künstlerwerkstatt Süd-Ost moniert, man warte schon mit einer Besprechung auf sie. Die 43jährige Bosiljka Schedlich bewahrt Gelassenheit, bewegt sich auf sieben Zentimeter Absatz sicher durch den Raum und sucht zwischendurch in ihrer Handtasche nach dem dunkelroten Lippenstift.
„Wenn man sich nicht jetzt einmischte in den Kampf zwischen Gut und Böse, wann denn sonst?“ Die zierliche Frau wählt ihre Worte sorgfältig: „Wer nicht kämpft, um das Böse zu verhindern, macht sich zum Mittäter. Wenn die großen Völker jetzt dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien nur zusehen, sind sie Mittäter.“
Vielleicht war es ihre Entschiedenheit, die ihre Großmutter in dem dalmatinischen Dorf schon zu dem kleinen Mädchen sagen ließ: „Du kommst bis nach Berlin.“ Berlin bedeutete den Inbegriff von Entfernung, für den man gerade noch einen Namen wußte. Die alte Frau wußte, daß ihre Enkelin oft stundenlang am Hang eines der karstigen Berge saß und sich fragte, was wohl hinter dem letzten Gipfel am Horizont käme. „In meinem Dorf begegnen sich Extreme“, sagt sie. „Die Blumen dort wachsen direkt am Felsen. Sie sind die allerkleinsten und ihre Dauer ist kurz, aber sie duften am schönsten. Die Menschen sind hart zu sich selbst, zueinander und zu den Tieren. Aber sie sind die besten Gastgeber, die den besten Schinken nie selbst essen.“
Als sie zu ihrem Vater zog, um in der Nähe von Split zur Schule gehen zu können, begann, was sie ihr „Dazwischenstehen“ nennt. Aus der archaischen Kultur des Dorfes kommend, traf sie auf eine Industriegesellschaft, in der sie immer das arme Dorfkind war.
„Ich fühlte mich so schäbig“, erinnert sie sich. Durch fleißiges Lernen suchte sie auszugleichen, daß ihre Eltern arm waren, daß ihr Vater in der Fabrik arbeitete, daß ihre Mutter eine Bäuerin war, immer in schwarz ging, nicht in modernen Kleidern wie die Mütter der Klassenkameraden. „Meine Mutter litt sehr darunter, daß sie nicht schreiben konnte. Die Briefe, die sie an mich diktierte, waren wunderbar. Sie redeten in der weichen Sprache meiner Mutter, der Sprache der Menschen im Dorf.“
Gegen den Willen ihres Vaters besuchte sie das Gymnasium und schrieb sich an der Universtiät in Zadar für Philosophie ein. Für ihren Vater war Verkäuferin das Höchste, zu dem ein Familienmitglied hätte aufsteigen können. „Wenn du gehst, wird in meinem Haus nicht mehr gelacht“, sagte er zu ihr und kaufte ihr eine Nähmaschine. „Wir haben kein Geld, dich studieren zu lassen.“
Vierzehn Tage später saß die 19jährige mit einem neuen Mantel und einem Koffer voller Schulbücher im Bus nach Berlin. Das war im Jahr 1969. Die Mutter einer Freundin hatte ihr vorgeschlagen, als Gastarbeiterin das Geld für das Studium selbst zu verdienen. Von den 450 Mark, die sie als Schallplattennadelprüferin bei Telefunken verdiente, blieb nichts übrig zum Sparen. 200 Mark zahlte sie allein für den Deutschunterricht. Nach einem halben Jahr verdiente sie ihr Geld mit Dolmetschen und Sozialarbeit in einem Wohnheim für jugoslawische Frauen und begann an der FU Germanistik, Publizistik und Russisch zu studieren. Sie fand deutsche Freunde und heiratete einen Berliner. Mit ihren beiden Kindern redete sie nur in ihrer Sprache.
„Ich sog die deutsche Kultur, die Dichtung und Philosophie auf wie ein Schwamm, bis es nicht mehr ging“, sagt sie. „Dann suchte ich Kontakt zu meinen Landsleuten, die meine Sprache und Kultur teilten.“ Sie gründete eine Frauengruppe, die die Nöte jugoslawischer Gastarbeiterinnen bearbeitete und entwickelte die Konzeption für die Frauenläden für türkische und jugoslawische Frauen im Wedding und in Neukölln.
In den Gesprächen mit diesen Frauen hat sie wieder gelernt, sich zu ihrem Dorf zu bekennen. „Weil ich mein Dorf immer in mir trage, kann ich überall ankommen und Heimat finden. Es ist wie ein Schweben, nicht fest verankert und doch nicht entwurzelt zu sein.“
Als der Krieg begann, kam es auch in Berlin zu Auseinandersetzungen zwischen den Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. „Mit Freunden haben wir dieses Zentrum geschaffen als Bindeglied für die Völker des Balkans. Es soll ein Modell sein, wo Menschen aller Nationen sich begegnen.“ Die Arbeit ist durch die Hilfe für die Kriegsflüchtlinge geprägt. „Die kommen aus einem intakten Leben, aus dem sie nie weg wollten, ganz anders als wir damals. Und sie sind durch die Hölle gegangen. Sie müssen erst wieder leben lernen.“
Sie kennt die Geschichte jedes ihrer Besucher. Für die junge Frau, die wochenlang in einer riesigen Halle mit anderen vergewaltigt worden war und hier durch ihre geplante Unterbringung in einer Turnhalle in Panik geriet, besorgte sie einen Heimplatz. Mit dem bosnischen Lehrer, der nach seiner Befreiung aus einem Konzentrationslager in Berlin das Trinken angefangen hat, will sie einen Literaturworkshop organisieren. „Ich kann die Geschichten dieser Menschen nur ertragen, wenn ich arbeite. Der Glaube, daß diese Zeit überwunden wird, das ist das Licht am Horizont, das man halten muß wie die Glut auf dem Feuer meiner Großmutter.“
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