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: Vergeßt Gottschalk!

■ "Die goldene Kamera"

„Die goldene Kamera“,

Samstag, 22.20Uhr, ARD

Das erste Mal passierte es vor zweieinhalb Jahren. Statt brav vor dem Fernsehapparat dem Ende eines drögen TV-Films auszuharren, genoß ich am lauen Sommerabend Chianti auf dem Trottoir des Straßencafés. Mit dem Aufzeichnen der Sendung zwecks zeitversetzter Rezeption hatte ich meine Maschine zum Abspielen von Videocassetten beauftragt. Nach entspannter Rückkehr zum Fernsehapparat bemerkte ich bestürzt, daß ich die Zeitschaltuhr zwar richtig programmiert, jedoch auf das falsche Programm eingestellt hatte – furchtbar schlechtes Gewissen.

Das nächste Mal rettete ich mich, indem ich statt der versprochenen Kritik eines „Tatort“- Krimis die Rezension des am folgenden Abend live ausgestrahlten Länderspiels Deutschland gegen Luxemburg verfaßte. Was nicht weiter auffiel, da ich das Ergebnis korrekt vorhergesagt hatte: Klinsmann verabschiedete sich wie immer mit Ganzkörperkrämpfen.

In der Folge zog ich die Lektüre eines Wiener Nervenarztes zu Rate und fand heraus, daß das zuweilen auftretende Vergessen beziehungsweise Verdrängen ausgewählter Fernsehsendungen mit einer intrazerebralen Abneigung gegen selbige einhergeht. Dieses Kriterium ist zwar nicht sachlich im Sinn einer kompetenten Kulturkritik, aber deswegen trotzdem wahr und eigentlich viel notwendiger. Denn man muß als Kritiker langsam aber sicher Vorkehrungen treffen, um sich gegen den Kulturkonzern Gottschalk in angemessener Weise zur Wehr zu setzen. Die Frage: Warum denn gerade Gottschalk und nicht etwa Jauch? klärt sich dann von selbst.

Wir haben, um zum Thema zurückzukommen, unlängst als unterste Qualitätsstufe des Fernsehens gemäß der von Harald Schmidt definierten, nach unten offenen Schmidt-Skala die Sat.1- Sendung „Ein Bayer auf Rügen“ ermittelt. Aber – Hand aufs Herz – ist es nicht egal, ob „Ein Bayer auf Rügen“ oder Gottschalk in der ARD ist? Wo er endlich mal wieder Quote schinden kann? Solange Haribo-Goldlaberlocke täglich nach 23.00Uhr nur auf Schmuddel-RTL seine ach so natürlich-fröhlich-schlagfertigen Sprüche in ein paar Parabolantennen schwätzt, werden ihm die Werbekunden allmählich mürbe.

Das schlechte Gewissen beim Vergessen ausgewählt schlechter (Werbe-) Sendungen ist also unbegründet. Viel schlechter sollte das Gewissen der Fernsehmacher sein, einem solche vorzusetzen. Ich bekenne: Ich habe Gottschalk vergessen. Und ich bekenne darüber hinaus: Ich habe die Zeit bestens genutzt und derweil einen empfehlenswerten Kurzroman gelesen, „Sekunde durch Hirn“ von Melchior Vischer (Bibliothek Suhrkamp, Nr. 975). Manfred Riepe