Rote Schutzengel im Untergrund

In Berlin baut eine multiethnische Gruppe von Jugendlichen nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Guardian Angels“ eine Schutztruppe für die öffentlichen Verkehrsmittel auf  ■ Von Bascha Mika

Engel sind unberechenbar. Immer zu Unzeiten steigen sie von der Himmelsleiter hernieder, um uns Gott weiß welche Botschaften zu bringen. Doch wenn man sie dann mal wirklich braucht, sind sie garantiert mit Hosianna-Singen beschäftigt. Das soll sich jetzt ändern. Die Abteilung Schutzengel plant eine Großstadtdependance. Am Himmel über Berlin haben sich die ätherischen Wesen materialisiert, sind auf die Erde herab- und noch weiter heruntergestiegen bis in die dunklen Schächte des Untergrunds. Und weil man dort so schlecht sieht, haben sie sich rot angezogen. „Guardian Angels“ steht auf ihren Jacken. Oder sind diese „Angels“ etwa gar keine Engel, sondern deren böse Vettern – Dämonen?

Dämonisch sehen sie nicht aus, die Kids, die sich im U-Bahngelände am Bayerischen Platz versammelt haben. Nur ein bißchen gebleicht vom Neonlicht. Zwei, drei Mädchen – eines schmächtig wie ein Püppchen, acht, neun Jungs – einer breit wie ein Bär, einer dünn wie ein Spargel. In einer ruhigen Ecke am Ende des Bahnsteigs warten die 16- bis 18jährigen auf ihren Einsatz, wollen endlich los: Streife fahren in den Zügen, aufpassen, ob jemandem Übles geschieht, und zur Not eingreifen. Ohne Gewalt – solange es geht. Geld gibt es keines, nur die Ehre, und wenn sie Pech haben Prügel und Schlimmeres. So machen es die Guardian Angels in den USA, in Kanada, in Mexiko und Großbritannien auf ihren safety patrols. Seit einem Jahr versucht eine Gruppe, die Idee in Berlin umzusetzen. Bis jetzt hat sie knapp 50 junge Leute rekrutiert – ein Viertel davon Mädchen.

Aber noch sind sie alle Engelanwärter. Multinational und ethnisch gemixt steht die Übungspatrouille im Kreis und lauscht. Der englische Erzengel spricht. Er wurde dem Berliner Gruppe als European Coordinator geschickt und soll die Sektion aufbauen. Colin Hatcher ist sein bürgerlicher Name, aber wie es sich für einen Chefengel gehört, heißt er im Dienst Gabriel. „You are here to make history in Berlin“, verkündet er seiner Schar, schaut mit festem, blauem Blick in die Runde, und die Kids blicken, so fest es geht, zurück. Gabriel ist Anfang dreißig und kein Hüne. Doch wie er so breitbeinig dasteht, große Worte macht und sie mit energischen Gesten und entschlossenem Gesicht unterstreicht, verbreitet er die beherrschte Kraft eines Oberindianers. „Der macht uns in jeder Hinsicht was vor“, schwärmt ein Junge, „deshalb haben wir jede Menge Respekt vor ihm.“

„Gegen Gewalt zu sein ist das Härteste, was es gibt“, predigt Gabriel. „Ous!“ brüllen die Kids, daß es über den Bahnsteig hallt. Den japanischen Kampfruf haben sie beim Training gelernt. Dreimal in der Woche werden sie in einer Sportschule unterrichtet: Nahkampf, erste Hilfe, Streß-Training und Patrouille-Verhalten stehen auf dem Programm. Mindestens drei Monate dauert die Engelausbildung.

Von Gabriel bekommen die Kids viel Zuckerbrot, aber auch die Peitsche. „Ein Guardian Angel ist allzeit bereit und immer gut drauf“, bleut er ihnen ein. Als „Führer“ fühlt er sich allerdings nicht. „Unsere Strukturen“, wehrt er ab, „sind nicht autoritärer als in jedem Sportverein.“ Und wem es nicht passe, der könne ja gehen. „Junge Leute brauchen den Kampf“, meint der Erzengel, „die Frage ist nur, kämpfen sie für das Richtige oder das Falsche. Ich will, daß sie davon träumen, bedrohten Menschen zu helfen. Aber das muß aufregend und gefährlich sein. Ein Guardian Angel zu werden muß spannender sein als alles andere. Wir brauchen Leute mit warrior-spirit.“

Im Dschungelkrieg der Großstadt suchen die Schutzengel ihre Gegner – genauso wie Hools, Skins, Autonome und multiethnische Streetgangs. Doch ihr Kriegsziel ist die „gute Tat“, sie verstehen sich als „neutrale Kraft“. Ihr Robin-Hood-Spiel ist so unpolitisch, daß es Faschos die Häme ins Gesicht und Antifas die Tränen in die Augen treiben muß. Da machen doch Kids freiwillig die Schweinearbeit von Bullen und rufen staatstragend nach der friedlichen Gesellschaft. „Ich hab' ja nichts gegen Linke“, sagt das Püppchen namens „Piranha“, „eher schon gegen Rechte. Aber die Hauptsache ist für mich, daß alle ruhig bleiben.“ „Skins und Türken“, wünscht Gabriel, „müßten gemeinsam gegen Gewalt kämpfen.“

Diese Integrationsfreude gefällt der Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John. „Die Jugendlichen sind von ihrer Aufgabe erfüllt, wollen Streß und Aggressivität abbauen und ein positives Beispiel geben“, sagt sie begeistert. Auf ihre Unterstützung kann die Gruppe zählen.

Gabriel verteilt weiße T-Shirts mit rotem Aufdruck und rote Jacken mit weißem Aufdruck. Ein geflügeltes Auge starrt einen an. Das Auge Gottes oder das von „Big Brother“? Bei der Klamottenübergabe schaut der Erzengel jedem ins Gesicht, jedem drückt er noch einmal die Hand. Die Botschaft kommt an: Jetzt bist du wer, du bist wichtig! Hier bewegt sich jemand auf einem Terrain, das bisher Rechte erfolgreich ausgebeutet haben – mit Ritualen und Insignien wird Gruppenidentität geschaffen. Die Angels haben alles, was dazugehört: von der Uniform über den Kampfschrei bis zum abenteuerlichen Code-Namen.

Ace, der Spargel, war schon dreimal auf Patrouille. „Vor Jahren hab' ich die Guardian Angels im Fernsehen gesehn“, erzählt der 16jährige, der Informatiker werden will, „die waren für mich wie Helden.“ Ein Held wolle er nun nicht gerade werden, grinst er bescheiden, aber seine Freizeit nicht nur vor der Glotze verbringen.

Die Jugendlichen schmeißen sich in die Windjacken. „Ach, ist das spannend“, seufzt Piranha, „ohne so was kann ich nicht leben. Die Angels sind inzwischen meine Familie.“ Jetzt noch das rote Barett, dann wird gecheckt: Hat jeder einen Stift, Papier und sein Ticket? Plötzlich tauchen zwei Männer im Hintergrund auf: ein Polizist und ein Wachmann der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Sauertöpfisch, die Arme vor der Brust verschränkt, beobachten sie die Gruppe. Zwei Boten fliegen ihnen entgegen: „Guten Abend“, flöten sie, „wir sind die Guardian Angels, und wir sind gegen Gewalt.“ Dem schwarzen Sheriff fällt die Kinnlade runter, der Polizeibeamte grient verlegen. Seit Mitte Januar streifen die selbsternannten Schutzengel durch die U- und S- Bahnen und vergällen mit ihrem Lächeln das Leben der BVGler und Wachmänner. Was soll diese Konkurrenz im lächerlichen Aufzug? „Unser Wachschutz“, mosert Ulrich Mohneke, Sprecher der BVG, „hat zum Sicherheitsempfinden der Fahrgäste beigetragen.“ Schamhaft verschweigt Mohneke das miese Image der Möchtegerncowboys mit ihren 93 Riesenkötern, die schon mehrfach wegen Kompetenzüberschreitung angezeigt wurden. „Wir brauchen keine Zusammenrottung von Leuten in Uniform“, schimpft Mohneke weiter, „außerdem sind da Nichtdeutsche dabei. Wollen Sie erlauben, daß so jemand gegen Sie einschreitet?“ Doch mit gültigem Fahrausweis darf auch ein Engel in die U- Bahn.

Argwöhnisch macht die professionellen Anbieter von Sicherheitsdiensten, daß die Angels eine non-profit-Organisation sind, die ihre Unkosten mit Spenden decken. Die Berliner Polizei und der Jugendsenator hingegen sehen das staatliche Gewaltmonopol bedroht und beäugen die Aktion deshalb „skeptisch bis ablehnend“.

Die ungeliebten Engelanwärter stehen immer noch auf dem Bahnsteig. Gabriel teilt sie in Gruppen ein, jeweils geführt von einem der Trainer, die aus New York und London zu Besuch sind: Sebastian, Storm, Mr. X. Endlich geht's los. Doch halt! Der Waffen- und Drogen-Check. Alle Kids werden gründlich durchsucht. Das wurde aus den USA übernommen, wo die Guardian Angels seit 14 Jahren existieren. Gerade ghetto kids finden bei den Angels eine Alternative zu gewaltbereiten Streetgangs. „Wär' ich nicht bei den Angels gelandet“, erzählt die 18jährige Storm mit ihrem schrecklich erwachsenen Gesicht, „wär' ich heute bestimmt im Knast.“ Einer der weltweit rund 5.000 Engel zu sein ist etwas Besonderes. Doch wer mit Waffen oder Drogen erwischt wird, fliegt raus.

„Für die persönliche Lebensperspektive der Jugendlichen“, meint der Polizeisoziologe Bretthauer, „sind die Guardian Angels sicher ein enormer Gewinn.“ Daß sie als rechtsradikale Bürgerwehr enden, kann er sich nicht vorstellen. Die Vorbilder aus den USA, ihre multiethnische Zusammensetzung und ihre Gewaltfreiheit sprächen dagegen. „Und das Gewaltmonopol des Staates seh' ich durch sie in keiner Weise gefährdet“, kontert er die Befürchtungen aus den Polizeietagen.

Ab in die U-Bahn, die Schutzengel schwärmen aus. „I want to save souls“, freut sich Jakob, ein schwarzer Engel aus Sierra Leone. Doch weder in der U7 noch in der S1 ist jemand in Not. Also fangen die Überzeugungstäter an zu missionieren. Informieren, Spenden sammeln und neue Leute rekrutieren gehört zum Job. „Guten Tag, wir sind die Guardian Angels“, lächeln sie gnadenlos eine ältere Frau nieder, die sofort zurücklächelt, „haben Sie schon von uns gehört?“ Dann spulen sie ihr Sprüchlein ab, und die Frau ist sichtlich angetan: „Das ist doch toll, wenn die so was machen, wo man sich doch nie so ganz sicher fühlt.“

Friedrichstraße, Alexanderplatz, Ostkreuz. Finstere Bahnsteige, grantige Wachmänner, muffige Passagiere. Immer wieder Leute, die sich von der Botschaft der Engel ansprechen lassen. Doch heute weit und breit kein Menschenleben zu retten, weit und breit kein Bedarf an guter Tat. Aber deshalb fühlen sich die Kämpfer gegen das Unrecht nicht überflüssig. „Wenn heute nichts passiert, dann morgen“, räsoniert einer von ihnen. „Es ist gut, anderen Leuten helfen zu können – und uns selbst auch.“