Nebensachen aus Tokio
: Dörfer in der Metropole

■ Wenn man beim Arbeiten auf einen Kartoffelacker blickt/ Die taz in der Mitte Tokios

Wie und wo stellen Sie sich die taz in Tokio vor? Womöglich zwischen hochgetürmten Kaninchenställen, die als Appartements verliehen werden, irgendwo in einer Blechhütte, aus der ein fahler Lichtschein und das Klappern von Computertasten dringt. Sie sehen eine abgegriffene Klingel, unter der eine rote Tatze klebt und in chinesischen Schriftzeichen „taz“ zu lesen ist. Genausogut könnte unser Büro auch in einem riesigen Betonkasten untergebracht sein, neben den Niederlassungen eines thailändischen Gewürzhändlers und einer koreanischen Bürgerinitiative. Oder es wäre der taz mit Überredungskunst gelungen, sich im Großraumbüro einer befreundeten Zeitung einen Ecktisch zu reservieren, von dem aus sich die japanischen Arbeitsverhältnisse unmittelbar beobachten ließen.

Doch so abenteuerlich geht es rund um unser Büro in Tokio nicht zu. Nicht einmal die Menschenmengen und der Verkehrslärm dringen bis hierher. Kinder laufen durch die Gassen und spielen Baseball vor der Klingel, wo in ganz gewöhnlichen Buchstaben „die tageszeitung“ geschrieben steht. Ein Viertelstunde, ziemlich lange für Tokioter Verhältnisse, läuft man bis zur nächsten S-Bahn-Station. Von dort ist es dann etwa genausoweit zum Stadtzentrum wie zum Stadtrand. Mitten in Tokio, der nach neuesten Zählungen wieder größten Metropole der Welt, hat also die taz ihr Büro aufgeschlagen – an einem Kartoffelacker.

Freilich werden die Kartoffeln erst im Frühjahr gepflanzt, weshalb vor meinen Augen derzeit Wintergemüse grünt. Es ist gerade drei Uhr am Sonntag nachmittag, und wie immer arbeitet drüben die bucklige alte Dame im Blaukittel neben ihrer Schubkarre. Vom Feldrand schaut ihr eine Katze zu.

Längst wollen Nippons Großunternehmer das Grundsteuergesetz ändern, damit Tokios Felder endlich zugebaut werden. Doch noch ist es nicht soweit: Die alten Tokioter, die ihre Felder lieben und wie Gärten bestellen, brauchen ihr Land nicht zu verkaufen, weil sie nur eine lächerlich geringe Grundsteuer zahlen. Niemand kann ihnen verbieten, weiter Kartoffeln zu pflanzen, statt Millionengewinne beim Verkauf einzustreichen. Deshalb gibt es in Tokio erstaunlich viele Bebauungslücken und damit ein wenig Luft zum Atmen, denn öffentliche Parks fehlen fast völlig.

Das Kartoffelfeld ist der Mittelpunkt unserer Nachbarschaft. Für ein Schwätzchen mit der alten Bäuerin hat jeder Zeit genug. So bleibt der erste stehen, dann der zweite. Die Szene erscheint geradezu ländlich. Weil darüber am Horizont der glasklare Fujiyama schwebt, bewahrt auch der Gesamtblick aus dem Bürofenster seine merkwürdige Entrücktheit gegenüber den Tokioter Verhältnissen. Sonst bekommt man den Fujiyama meist nur in den Chefbüros der großen Konzerne zu Gesicht, die es sich ein Vermögen kosten lassen, ihre Büros so weit in den Himmel zu bauen, bis der heilige Berg erkennbar ist. Doch in unserer Nachbarschaft gibt es keine Hochhäuser, und der Blick über das Feld ist frei.

Unten hat sich der alte Großgrundbesitzerenkel zur Bäuerin gesellt. Mag sein, daß die beiden noch auf eine feudale Beziehung bauen können. Sie verstehen sich offenbar prima. Der Großgrundbesitzerenkel züchtet direkt gegenüber vom Eingang des taz- Büros Amanatsubäume. Letzte Woche sah ich ihm beim Ernten zu. Die Früchte sind so groß wie Pampelmusen und schmecken auch ein bißchen ähnlich. Inzwischen hält sich unser Nachbar über Deutschland bestens informiert, so findet er bei jeder Begegnung einen neuen Gesprächsanlaß.

Etwas abseits vom Felde, wo früher vielleicht die Scheunen des Hofes standen, hat eine kleine Tatami-Werkstatt überlebt. Ringsherum stehen neue Wohnhäuser, doch aus einem unserer Fenster kann man dem Meister beim Binden der dicken, teuren Strohmatten über die Schultern schauen. Unter der klaren, warmen Wintersonne hält er alle Türen tagsüber geöffnet. Es fehlte nur noch der Tofu-Laden, und das Dorf wäre vollzählig.

In Tokio gibt es Abertausende solcher Dörfer. Zumindest für Mütter, Kinder und Pensionäre machen sie das Leben in der Metropole erträglich. Wer freilich die üblichen zehn Stunden in Fabrik oder Büro arbeitet, bekommt von seiner Nachbarschaft nur am Wochenende etwas zu sehen. Das ist ein Vorteil der Heimarbeit im taz-Büro. Georg Blume