■ Bildung muß wieder einen Auftrieb bekommen
: Über allen Gipfeln ist Nebel

Wenn sie in Schwierigkeiten geraten, dann steigen Politiker auf einen Gipfel. Dort vergewissern sie sich: Da wo wir sind, ist oben. Dem Umweltgipfel und dem Wirtschaftsgipfel 1992 soll im Juni 1993 nun auch ein nationaler Bildungsgipfel beim Bundeskanzler folgen. Das Ritual scheint sich einzubürgern: Wenn die Probleme unübersichtlich werden, dann flüchten die Strategen nach oben. Für die notorisch vernachlässigte Bildungspolitik ist dieser Gipfel-Blick auf sie allerdings ungewohnt. Zwanzig Jahre lang wurden Schulen und Hochschulen ins Tal verbannt und auf Zwischenlager zum Coolingout des Nachwuchses getrimmt.

1972 bereits erklärte Hildegard Hamm-Brücher die Bildungsreform für gescheitert. Keine zehn Jahre dauerte zuvor die Aufbruchszeit, in der Ralf Dahrendorf ein Bürgerrecht auf Bildung forderte, Georg Picht eine Bildungskatastrophe vorhersagte und ein Bundeskanzler Willy Brandt die Schule zur Schule der Nation erklärte. Von der Schüler- und Studentenbewegung garnicht zu reden. Dann hörte Bildung auf, Thema der Politik zu sein. Der Platz wurde eng für Fragen, wie sich etwa die nachwachsende Generation in einer Welt zurechtfinden soll, die immer mehr zur fertigen Welt wird, in der Spielräume und Zwischenräume für Kinder und Jugendliche so selten werden wie Biotope.

Aber wenn Kinder heute im Durchschnitt keine fünf Spiele mehr kennen, die sie ohne großen technischen Aufwand betreiben können – um die Jahrhundertwende kannten Kinder 100 solcher Spiele –, wenn in Grundschulen über eine ebenso geheimnisvolle wie sich epidemisch ausbreitende „Diskalkulie“, Rechenschwäche, geklagt wird, wenn der Personalentwicklungs-Chef von VW kritisiert, in Schulen und Hochschulen würden Einzelkämpfer ausgebildet, die zur Teamarbeit nicht in der Lage seien, denen es zudem an Kreativität mangele – wenn man diese Zeichen nicht länger leugnen will, dann wird es höchste Zeit, wieder über Bildung zu sprechen.

Auf der Tagesordnung stehen jetzt nicht mehr so sehr Themen wie Chancengleichheit, es geht um die Moral unserer Gesellschaft. „Nach uns die Mutation – wozu eigentlich noch Bildung“, diese Moral gerät in Schwierigkeiten.

Der Bundeskanzler hat ein Restgespür für die Themen, an denen er nicht vorbeikommt. Also holte er das Thema Bildungspolitik aus dem Papierkorb und setzte es wieder auf die Tagesordnung. Er schrieb einen ganzseitigen Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, überschrieben mit „Bildungspolitik für den Standort Deutschland“. Standorte, das waren früher Städte mit Kasernen, in denen die Soldaten auf ihren Einsatz warteten. Heute geht es in der Standortfrage um Fabriken. Daß deren Ansiedlung etwas mit dem Stand der Arbeitskräfte zu tun hat, ist einer dieser Minimalgedanken, bei denen der Groschen fällt. Immerhin hat sich auch in Bonn herumgesprochen, daß in Japan fast 90Prozent der Jugendlichen eine zwölfjährige Schule erfolgreich besuchen. 35Prozent machen sogar ein Hochschulexamen. Bei uns ist die Quote der Hochschulabsolventen mit Abschluß nicht mal halb so hoch wie in Japan. Dennoch gehen in Japan reihenweise Firmen pleite, weil sie nicht genügend hoch qualifizierten Nachwuchs bekommen. In Tokio geben große Firmen viele Millionen aus, um mit aufwendigen Werbetricks Hochschulabsolventen zu rekrutieren. Sie organisieren Empfänge, schalten Fernsehspots und spendieren zum Einstand sogar einen Kleinwagen. Und in Deutschland?

Studieren heute, schreibt der Berliner Politologe Bodo von Greif, das ist wie Tennisspielen auf Kopfsteinpflaster. Tennisspielen auf Kopfsteinpflaster, das geht nicht. Egal wie man spielt, man trägt zum Scheitern seiner selbst und aller anderen bei. Und weil das Spiel auf Kopfsteinpflaster bereits zum unübersehbaren Desaster führt, beschließen nun Funktionäre, mit wichtigen Mienen über das Spieldebakel der Aktiven zu konferieren. Ein Gipfel. Jetzt wollen sie neue Spielregeln aufstellen. Vor allem die Platzzeiten wollen sie begrenzen. Aber über das Kopfsteinpflaster zu reden, dazu können sie sich nicht durchringen.

Will diese Gesellschaft wirklich nicht an ihre Zukunft denken. Glaubt sie nicht daran, daß es weitergeht?

Es ist nicht ganz so. Das Wort Gesellschaft ist wieder mal zu pauschal. Denn ausgerechnet dort, wo man sie nicht erwartet, rückt die Diskussion über Bildung ins Zentrum: in den Unternehmen. Sie geben allein für Weiterbildung inzwischen fast 30 Milliarden im Jahr aus. Ungefähr so viel wie der Staat den notleidenden Hochschulen zugesteht, wenn man die teuren medizinischen Fakultäten aus der Rechnung herausläßt. In vielen Unternehmen ändert sich der Begriff „Bildung“ grundlegend. Bildung wird nicht mehr so sehr als Belehrung aufgefaßt, sondern als „Potential für die Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen“. Von der learning organisation ist die Rede. Und eine lernende Organisation ist eben keine belehrte. Es ist kein Zufall, daß die avanciertesten und übrigens auch erfolgreichsten Firmen in der Computerbranche sich selber als lernenden Organismus begreifen wollen und erkennen: „Hierarchien hindern uns an unserer Evolution.“ Sie entdecken tatsächlich eine neue Moral des Fehlermachendürfens, weil der Fehler nichts anderes ist als das Abtasten der Möglichkeiten im Unbekannten.

Von dieser Art Lernen sind unsere Schulen und Hochschulen so weit entfernt wie die Regierungspolitik. Eine Politik, die keine Fehler machen will, verwaltet die Bestände, statt sie zu erneuern. Anders gesagt, weil sie die kleinen Fehler vermeiden will, macht sie die großen. Unsere Bildungseinrichtungen sind zu Lernfabriken verkommen. Und just zu diesem Zeitpunkt werden in den Fabriken aus guten Gründen Gruppenarbeit, Lernen und die Produktivität des „Absichtslosen“ entdeckt. Der Chef der Personalentwicklung bei VW, Peter Haase, sagt: „Wir brauchen eine Kulturrevolution! Weg von der Hierarchie, weg vom Einzelkämpfer, Abschied vom Wissensvielfraß.“

Die Polis regt sich also, auch wenn die Politik in Agonie liegt. Untrügliche Zeichen, daß die Karten neu gemischt werden. Es wird wieder spannend. „Bildung“, sagte kürzlich der IBM-Manager John Hormann, „ist nichts anderes als die Selbsterneuerung einer Gesellschaft. Wir brauchen Bildung.“ Daß die Selbsterneuerung nicht von Herrn Kohl ausgeht und auch nicht von den Ministerpräsidenten der Länder, darüber wollen wir nicht länger lamentieren. Warum denn soll der Bildungsgipfel nur beim Kanzler stattfinden? Vielleicht wachen 1993 die Studenten und ihre Professoren auf, und vielleicht verabreden sie sich mit dem Chef der Personalentwicklung von VW und treffen sich mit den durchaus klugen Vordenkern der IBM, die wissen, daß ihr Überleben ohne eine Kultur des Lebens auf Dauer nicht zu haben ist. Ein solcher Bildungsgipfel dürfte aufregend werden. Reinhard Kahl

Der Autor ist Rundfunk- und Fernsehjournalist. Im Mai erscheint bei Rowohlt sein Buch „Uni-Not-Stand“.