Radioaktivität vom Winde verweht

■ 20 Prozent der weißrussischen Bevölkerung lebt in verseuchten Zonen

Berlin (taz) – In Belorußland nehmen die radioaktiv verseuchten Flächen sieben Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl immer noch zu. Wind, Regen und Flüsse verteilen die strahlenden Partikel über große Entfernungen. „Die Grenzen des verseuchten Gebietes verwischen sich. An manchen Stellen war es im vergangenen Jahr noch gut, und heute haben wir eine starke Verseuchung“, so Viktor Waaks, der Leiter des belorussischen Zentrums für Ökologie, das ähnliche Aufgaben hat wie das deutsche Umweltbundesamt. Zwei der zehn Millionen Belorussen lebten in den stark verseuchten Zonen, die 20 Prozent des Landes ausmachen, sagte Waaks auf der Umwelttechnikmesse Utech in der vergangenen Woche in Berlin.

Weder die gesundheitlichen noch die ökonomischen Folgen der Reaktorkatastrophe sind für die im Norden der Ukraine gelegene GUS-Republik bis heute abschätzbar. In dem Land, das selbst keine Atomkraftwerke betreibt, mußten seit 1987 kostspielige Umsiedlungsprogramme durchgeführt werden. „Der Staat hat neue Dörfer bauen müssen.“ Nahrungsmittel dürfen nicht angebaut werden, Vieh muß vor der Schlachtung mit unverseuchtem Futter versorgt werden. „Wenn das Fleisch trotzdem zu verseucht ist, nutzen wir es für die Zucht von Pelztieren. Und wenn es ganz schlimm ist, wird es ganz weggeworfen“, beschreibt Waaks das Dilemma. Für die Menschen in den verstrahlten Gebieten gibt es täglich Informationen über die aktuelle Belastung. In allen betroffenen Kommunen stehen inzwischen Meßstationen, wo selbst angebautes Gemüse auf Radioaktivität überprüft werden kann. Allerdings benutzten viele Menschen die Geräte nicht, bedauert Waaks.

Aber immer mehr Menschen ziehen fort. „Dort vollzieht sich eine konstante Entvölkerung.“ Dabei seien nicht unbedingt die Regionen, die Tschernobyl am nächsten lägen, am stärksten kontaminiert. Manchmal sei sogar 40 Kilometer von dem havarierten Reaktor entfernt die Strahlenbelastung relativ niedrig, während es in 200 oder 300 Kilometer Entfernung vom Ort der Katastrophe Flecken mit weitaus höherer Belastung gebe.

Tschernobyl war in den letzten Jahren der Sowjetunion ein wichtiges Thema der belorussischen Opposition. „Bei den ersten Parlamantswahlen widmeten sich alle Kandidaten in ihren Programmen ausführlich der Ökologie“, meint Waaks. Aber bei der Gesetzgebung habe man in den vergangenen zwei Jahren wenig von den selbsternannten Ökologen gemerkt: „Bis heute ist gerade ein Umweltgesetz verabschiedet.“ Das Gesetz beinhaltet die Absichtserklärung, umweltfreundlichere Technologien einzuführen und Natur- und Ressourcenverbrauch in der Wirtschaft zu berücksichtigen.

Außerdem wird ein nichtstaatlicher Naturschutzfonds vorbereitet. Die Betriebe, die Boden, Wasser und Luft nutzen, müssen dort künftig etwa ein halbes Prozent des Bruttosozialprodukts für ökologische Zwecke einzahlen. Das Geld soll dann auf lokaler, regionaler und erst zuletzt auf gesamtstaatlicher Ebene wieder ausgegeben werden. Die Verteuerung des Ressourcenverbrauchs tut not: „Wenn wir zum Beispiel einen Bleistift produzieren, braucht unsere Wirtschaft zweimal soviel Wasser und dreimal soviel Energie wie die deutsche“, beschreibt Waaks die Herausforderung.

Die veralteten Technologien hält Waaks denn auch für das Hauptproblem. Gleichzeitig räumt der Regierungsökologe ein, daß 16 Gesetze zum Schutz von Luft, Boden und Gewässern und zur Umweltverträglichkeitsprüfung bisher trotz der vermeintlich ökologischen Einheitsfront im Parlament fast nicht über Referentenentwürfe hinausgekommen sind. In der Zwischenzeit behelfe man sich mit den rechtlichen Regelungen und Grenzwerten, die in der UdSSR Gültigkeit hatten. Ziel seiner zweihundertköpfigen Behörde sei es aber, sich an westeuropäischen Standards zu orientieren, versichert Waaks. Hermann-Josef Tenhagen