„Energien von den Minderheiten“

■ Tony Rayns, die graue Eminenz der britischen Filmkritik, über schwules Kino in Fernost

taz: Mr. Rayns, während die Panorama-Sektion der Berlinale schon seit Jahren für ihr Interesse an sexuellen, speziell schwulen Themen bekannt ist, scheinen „sexual politics“ diesmal das gesamte Festival zu bestimmen. Wie kommt das?

Tony Rayns: Wahrscheinlich hat das, was wir hier erleben, etwas mit der Gesamtsituation des Kinos in aller Welt zu tun. In den meisten Kulturen geht es abwärts mit dem Kino. In dieser Situation verliert der Mainstream Energien an die Minderheiten, seien es ethnische, sexuelle oder auch politische Minderheiten, zum Beispiel radikale Feministinnen. Beim amerikanischen Independent-Film der letzten Jahre kommen beispielsweise die innovativsten und interessantesten Beiträge aus der Schwulen- und Lesbenszene.

Wie kommt es, daß so viele der Beiträge aus Ostasien — auch eine Minderheit der Filmwelt — sexuelle Konflikte oder schwules Leben zum Thema haben?

Es hat Jahre gedauert, bis asiatische Filme überhaupt ernst genommen wurden. Daß es jetzt Filme zu schwulen Themen überhaupt gibt, ist ein Politikum, und das hat erst 1992 begonnen, da war so ein Durchbruch. Man kann nur spekulieren, wie es dazu kam: Ein Faktor ist sicherlich Aids. Eine der verblüffenden Nebenwirkungen dieser Krankheit ist ja, daß es die öffentliche Diskussion von Fragen, die schwule Sexualität betreffen, überhaupt möglich gemacht hat. Wenn man über unsichere sexuelle Praktiken redet, so ist das vielleicht ein negativer Kontext, aber es ist immerhin einer. Hinzu kommt, daß eine steigende Zahl offen schwuler Filme aus dem Westen nun im fernen Osten zu sehen sind. Der Inferioritätskomplex, der immer gegenüber dem Westen bestand, führt auch hier dazu, daß man Schritt zu halten versucht mit der Fülle an Material, die bei uns zum Thema Sex produziert wird.

Spielt Emigration eine Rolle? In den zwei mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Filmen, dem „Hochzeitsbankett“ und „Die Frauen vom See der duftenden Seelen“, ging es auch um die Emigration nach Amerika bzw. Japan.

In den meisten ostasiatischen Ländern – mit Ausnahme vielleicht von Thailand und den Philippinen – ist Schwulsein ein derartiges Sakrileg, daß viele sich zur Auswanderung gezwungen sahen. Wir reden über Kulturen – vor allem China, Korea, Japan und die anderen im chinesischen wurzelnden Kulturen – in denen die Menschen von Anfang an dazu erzogen werden, im Sinne des Kollektivs und nicht im Sinne des Individuums zu denken. Die Japaner haben Nischen für sexuelle Abweichung geschaffen. In dieser oberflächlich gesehen so konservativen Gesellschaft gibt es jede Menge Subkulturen, einschließlich homosexueller oder pornographischer. Aber es ist eben nur Subkultur, es hat überhaupt kein öffentliches Profil. In den Filmen sieht man, was das auf individueller Ebene bedeutet: Der Hauptdarsteller aus „Twinkle“ ist ein erfolgreicher Arzt, aber er hat ein Alter erreicht, in dem sein Unverheiratetsein anfängt, merkwürdig zu wirken. Wenn er nicht bald heiratet, wird er nicht befördert.

Glauben Sie, daß der Anschluß an die lange Tradition der „ars erotica“ in diesen Ländern den neuen Minderheiten ein „Coming- out“ erleichtert? Die Tunten in „Ogoke“ sehen aus wie Geishas...

Das traditionelle Theater und die Oper, speziell in Japan, ist immer eine Nische für sexuelle Abweichung gewesen. Der japanische Beitrag zum Wettbewerb der Berlinale, „Sehnsucht“ von Tamasaburo Bando, hat in diesem Zusammenhang einen interessanten Hintergrund. Der Regisseur hat die weibliche Hauptrolle der leidenden, starken japanischen Frau in diesem typischen Melodram der Jahrhundertwende vor Jahren selbst gespielt, er war regelrecht auf diese Rolle spezialisiert. Was auf dem Theater geht, geht aber nicht im Film, und so konnte er diese Rolle nicht selbst spielen.

In dem chinesischen Wettbewerbsbeitrag „Die Frauen vom See der duftenden Seelen“ schauen die Männer japanische Pornos...

Das ist eben das Resultat von 400 Jahren sexueller Unterdrückung. Aber das merkwürdige ist, daß diese Länder eine lange Tradition von sexueller Liberalität haben, sehr viel länger als westliche Länder. Wenn man sich die Literatur der Tsing-Dynastie von 1600 bis 1900 ansieht, sieht man eine hochentwickelte polymorphe erotische Kultur. Die männlichen Protagonisten haben sehr häufig jüngere Liebhaber, während sie der Heldin den Hof machen. Das gilt auch für Japan. Der heutige Puritanismus dieser Kulturen ist fast gänzlich ein Produkt des Kolonialismus. Die westlichen Missionare im China des 19. Jahrhunderts waren es, die die Idee von Schuld im Zusammenhang mit Sex überhaupt erst eingeführt haben.

Glauben Sie, daß es filmästhetische Innovationen im Zusammenhang mit dem Thema schwuler Sexualität gibt?

Es gibt zur Zeit in Japan einen Filmemacher, Hirouki Oke, der nicht nur offen schwule Filme macht, sondern Filme über sein eigenes Leben, Tagebuchfilme, sehr subjektive, sehr talentiert. In einer ganz normalen Tageszeitung veröffentlicht er seine Erlebnisse, wen er getroffen hat, was passiert ist, wie es in der Sauna war. So etwas wäre noch vor fünf Jahren undenkbar gewesen, Oke ist mit seinen 27 Jahren wirklich der erste. Das ist wirklich auch formal revolutionär. Da ist eine neue Generation nachgewachsen, die sehr vertraut mit westlichen Maßstäben ist, aber keineswegs emigrieren möchte. Die sind nicht mehr bereit, sich zu verstecken. Mariam Niroumand