Das russische Volk betrunken gemacht

Wassilij Rosanow und Friedrich Gorenstein nehmen Abschied von der Wolga  ■ Von Irene Schülert

Der Titel verspricht kein Wiedersehen unter glücklichen Vorzeichen: „Abschied von der Wolga“. Was erwartet den Leser? Eine weitere düstere Prognose für dieses Land, das 1917 den Aufbruch wagte, für Generationen zum Erfüllungsort konkreter Utopie wurde und nun als riesiges Armenhaus im Osten erscheint? Die Herausgeberin des Bandes, Sonja Margolina, stellt Essays zweier Wolgareisender vor. Der eine stammt von dem Russen Wassilij Rosanow, veröffentlicht 1907, der andere von dem jüdischen Russen Friedrich Gorenstein, geschrieben 1988. Die Biographien der beiden berühren sich kaum. Rosanow verhungert 1919, in der Zeit des „Kriegskommunismus“. Gorenstein kehrte der Sowjetunion desillusioniert den Rücken und lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin. Die Bindeglieder beider sind ihre Beschreibungen der Wolga, ihre Erfahrungen mit Land und Leuten im zeitlichen Abstand von achtzig Jahren.

Durch die Zusammenstellung der zwei Essays ermöglicht Margolina eine für den heutigen Leser interessante Perspektive: Während der Text von Rosanow das vorrevolutionäre Beben angesichts des Elends im zaristischen Rußland mit seinen unausgegorenen Erwartungen und Hoffnungen schildert, die mit dem Projekt des Kommunismus verknüpft waren, führt uns Gorenstein die „postkommunistische“ Misere vor Augen, ein grandios gescheitertes Experiment und eine Bevölkerung, die – ohne erkennbare Ansätze eines tragfähigen Neubeginns – vor dem Scherbenhaufen ihrer Gesellschaft steht.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstand Rosanow die Kraft der Wolga mit ihren modernen Dampfern als Symbol einer leuchtenden Zukunft, als Hoffnung auf ein erneuertes Rußland. Daher der euphorische Titel: „Der russische Nil“. Der heilige, lebenspendende Nil schien ihm in seiner Bedeutung durchaus mit der Wolga vergleichbar. Im „Land der Pharaonen“ ließ sich am historischen Beispiel bestaunen, welches Ausmaß an Lebensenergie, an ungeahnten Kräften ein großer Strom bei seinen Anwohnern freizusetzen vermag. Eine Frage, die Rosanow dabei beschäftigte, war die nach der Energiequelle, aus der die Menschen Kraft, Mut und Hoffnung schöpften.

Beiden Autoren dienen ihre Erlebnisse während der Wolgareise als Folie einer bildhaften Darstellung des russischen Gesellschafts- und Gemütszustandes. Obwohl sich im Fluß die gesamte russische Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt, werden (auch von Gorenstein) welthistorische Ereignisse wie die Oktoberrevolution, die Vertreibung und Ermordung der Kulaken, der Stalinismus, der militärische Überfall der Deutschen mit seinem Wendepunkt an der Wolga, bei Stalingrad, nicht explizit erwähnt oder thematisiert. Statt dessen werden alltägliche Beobachtungen geschildert, hauptsächlich Begegnungen mit Menschen, ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihre Äußerungen. Derartige Augenblicksschilderungen verknüpft Rosanow mit Überlegungen zur kulturell-politischen Entwicklung des Landes. So begegnet er auf dem Wolga-Dampfer einem jungen russischen Ehepaar, beide Lehrer, er ist jüdisch, sie nicht. In seiner Beschreibung reflektiert Rosanow die Beziehung zwischen nichtjüdischen Russen und russischen Juden, der er trotz Pogromen und Antisemitismus positive Aspekte abgewinnt: „Ich glaube, es gibt zwischen diesen ganz besonders unglücklichen Stämmen, die von außen verfolgt und zu Hause unterdrückt waren, etwas wie Mitgefühl und Zuneigung... Ich glaube, daß aus der Vermischung beider Blutströme etwas Geniales hervorgehen wird.“ Angesichts der Pogrome und des Judenhasses klingen solche Überlegungen fast zu märchenhaft, um wahr zu sein.

Der Reisende, stets auf der Suche nach „positiven Zeichen“ an den Ufern der Wolga, reflektiert auch, was der „Moderne“ entgegenstehen könnte. Nicht zufällig fällt ihm als erstes die ungeheure Trunksucht ein: „Ich würde wahrlich keinen Propheten akzeptieren, der sein Werk nicht damit begönne, dem Volk die Wodkaflasche aus der Hand zu schlagen.“ Außerdem beschreibt er die sprichwörtliche Passivität des Volkes, „aus der wir nur dann zum Leben erwachen, wenn es jemanden zu beerdigen gilt... Eine erstaunliche Nation, die nur das Sterben ,interessant‘ findet!“ Allerdings stellt er derart lähmenden Faktoren eine tatendurstige, wißbegierige Jugend gegenüber, die er für fähig hält, die eigene Zukunft zu gestalten.

Auch Gorensteins Reise beginnt mit einer Dampferfahrt. Jedoch ist er nicht länger auf der Suche nach Zeichen für ein Erblühen Rußlands, sondern nimmt Abschied von einem Land, das ihm kein Zuhause mehr bieten kann. So trägt sein Essay den melancholischen Titel „Der letzte Sommer an der Wolga“. Kulturpessimistisch philosophiert Gorenstein mit Schopenhauer im Gepäck über Land und Leute. Die Menschen, denen er begegnet, sind für ihn die „gefressenen Kinder der Revolution“, das traurige Ergebnis der sowjetischen Entwicklung, die die Aufbruchseuphorie in Apathie verwandelt hat. Manchmal sieht er noch Momente von Freude und Wärme auf der sonnigen Wolga glimmen, wo ihm die Ufer zu tanzen scheinen, jedoch nur, um anschließend in noch bedrückendere Beklommenheit zu verfallen.

Mit dem Gefühl eines Fremden blickt er sich ein letztes Mal „wehmütig und verärgert“ um, sehr wohl wissend, daß im Abschiedsblick immer auch Bitterkeit liegt, die die Maßstäbe verschiebt. Schnell will er fort, denn das Land sei nur für „professionelle Bewohner“, für Menschen, die Geschäfte machen, „organisieren“ können. Der jüdische „Stiefsohn“ Rußlands, der versuchte, mit seiner Arbeit zu inspirieren, wird abgelehnt und empfängt keine Impulse mehr, denn das russische Leben ist für Gorenstein „stark vertrocknet“. Kein Wunder, daß – nimmt man sein Bild einer sozialen Wüste wörtlich – der Durst (und damit die Sauferei) in der Bevölkerung weit verbreitet sind. So liest sich der Essay streckenweise wie eine Abhandlung über das Trinken, teils zornig, teils ironisch, aber immer auch ernsthaft. Ein ganzes Volk scheint im Delirium, und Gorenstein geht der Frage nach, wer schuld an der Trunksucht sei: „Ohne Zweifel wurde das russische Volk betrunken gemacht. Doch wer hat es getan?“ Der Abschiednehmende fühlt sich bereits als Fremdkörper, und die einzige Art, die aufkommende Fremdheit zu überwinden, scheint ihm, mit den Leuten zu trinken, „weil man, wie Karl Marx richtig bemerkte, nicht zugleich in der Gesellschaft und frei von ihr leben kann oder, wie mein Freund beim Trinken immer sagte: Russisch leben – russisch heben!“

Im Fortgehen prägen sich ihm zwei weibliche Gestalten ein, in denen er das heutige Rußland versinnbildlicht glaubt: eine Bettlerin in mittleren Jahren und eine ältere gesichtslose Frau. Die Bettlerin haust an einem Schiffsanleger und ernährt sich von trockenem Brot und Salz: „...die elende Nixe, die unschuldige Mörderin mit dem sanften hellen Blick und der bitteren Herbstseele“. Die ältere Frau hat leblos-stumpfe Gesichtszüge wie der Schweinekopf, den sie gerade gekauft hat.

Wassilij Rosanow, Friedrich Gorenstein: „Abschied von der Wolga“. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Sonja Margolina. Rowohlt Berlin. 200 Seiten, 32Mark.