Kriegsverbrechen Vergewaltigung

Vom Nutzen, den es hat, Menschenrechtsverletzungen beim Namen zu nennen/ Ein Plädoyer für die Einrichtung eines „Ad-hoc-Strafgerichtshofs“ gegen die Vergewaltiger im ehemaligen Jugoslawien  ■ Von Helga Wullweber

Im Krieg im ehemaligen Jugoslawien sind von allen Konfliktparteien Kriegsverbrechen an Frauen, Männern und Kindern begangen worden. Am umfangreichsten aber und systematisch wurden muslimanische Frauen von den Truppen der bosnischen Serben vergewaltigt. Die Vergewaltigungen bezweckten die psychische Zerstörung der muslimanischen Frauen und Männer und ihrer Familien. Sie dienten der ethnischen Säuberung, waren Kriegstaktik der Serben, um Terrain zu erobern. Das unterscheidet die von den Serben begangenen Vergewaltigungen von anderen Kriegsvergewaltigungen. Lange Zeit blieben das UN- Flüchtlingskommissariat und das Internationale Rote Kreuz untätig. Erst die internationale Einmischung von Frauen hat ein Ende der Untätigkeit bewirkt.

Aus der Feststellung, daß die Serben besonders grausam und zielgerichtet mordeten, folterten und vergewaltigten, folgt nicht, daß damit die Serben als für den Krieg verantwortlich dingfest gemacht wären. Die Verurteilung der Kriegführung ist von der Beurteilung der Kriegsursachen zu unterscheiden. Das Anprangern der Kriegsverbrechen, das Beharren auf der Einhaltung der für die Zivilbevölkerung existentiellen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts darf nicht den Blick auf das vielschichtige Konfliktfeld trüben, das dem Krieg zugrunde liegt. Handlungsräume, die sich durch das öffentliche Anprangern der Kriegsvergewaltigungen eröffnen, könnten durch die Ineinssetzung von Kriegführung und Kriegsursachen verschüttet werden.

Vergewaltigung – Vergessenes Kriegsverbrechen

Von BürgerInnen und PolitikerInnen wurde, um die internationale Staatengemeinschaft aufzurütteln und zum Eingreifen zu veranlassen, gefordert, die Kriegsvergewaltigungen als Kriegsverbrechen zu ächten. Es ist bemerkenswert und bezeichnend, daß die Ächtung von Vergewaltigungen im Krieg als Kriegsverbrechen öffentlich nicht bekannt war, obgleich mit dieser Ächtung nach 1945 die Konsequenz aus den den Frauen im Zweiten Weltkrieg angetanen Vergewaltigungen gezogen wurde.

Die Ächtung der den Frauen in Bosnien-Herzegowina angetanen Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen resultiert aus den von allen bosnischen Konfliktparteien in einer Vereinbarung vom 22.5.1992 anerkannten vier „Genfer Rotkreuzabkommen“ vom 12.8.1949. Im 4. Genfer Rotkreuzabkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten heißt es zum Schutz der Frauen explizit: „Die Frauen werden besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigungen geschützt.“ In zwei Zusatzprotokollen vom 10.6.1977, durch die der humanitäre Mindeststandard, wie er in den vier Rotkreuzabkommen normiert ist, fortentwickelt und auf Bürgerkriege erstreckt wurde, werden unter anderem Folter jeder Art, gleichviel ob körperlich oder seelisch, Beeinträchtigungen der persönlichen Würde, insbesondere Vergewaltigung und Nötigung zur Prostitution, jederzeit und überall verboten.

Die systematischen, gezielt als Kriegstaktik eingesetzten Vergewaltigungen sind Kriegsverbrechen, weil sie schwere Verstöße gegen die Genfer Rotkreuz- und Zusatzabkommen darstellen. Die systematischen Vergewaltigungen der muslimanischen Frauen durch die serbischen Truppen sind außerdem strafbare Kriegsverbrechen aufgrund der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ von 1948.

Ächtung von Vergewaltigung als Kriegsverbrechen

Einen völkerrechtlichen Verbrechenskodex, der Sanktionen für Straftaten normiert, gibt es allerdings noch nicht. Auch die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ von 1948 enthält keine eigene Strafnorm, sondern verpflichtet lediglich die Signaturstaaten, Handlungen, die als Völkermord definiert sind, unter Strafe zu stellen. Auch in allen vier Genfer Rotkreuzabkommen werden die Vertragsstaaten verpflichtet, „alle notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Festsetzung von angemessenen Strafbestimmungen für solche Personen zu treffen, die eine schwere Verletzung des Abkommens begehen oder zu solch einer Verletzung den Befehl erteilen“. Beiden Verpflichtungen ist Deutschland nachgekommen.

Die Völkermordkonvention sieht vor, daß Personen, denen Völkermord zur Last gelegt wird, entweder vor ein Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt werden. Die vier Genfer Rotkreuzabkommen dagegen verpflichten jede Vertragspartei „zur Ermittlung der Personen, die der Begehung oder der Erteilung eines Befehls zur Begehung einer schweren Verletzung beschuldigt sind; sie stellt sie ungeachtet ihrer Nationalität vor ihre eigenen Gerichte ...“ Das heißt: Jeder Vertragsstaat, auch die Bundesrepublik, ist zur Verfolgung der Personen, die als Kriegsverbrecher beschuldigt werden, verpflichtet.

Einen internationalen Strafgerichtshof gibt es noch nicht. Als Ausweg versucht zur Zeit die aus 52 Staaten bestehende KSZE- Staatengemeinschaft einen „Ad- hoc-Strafgerichtshof“ zur Verfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien einzurichten. Eine vom Sicherheitsrat eingesetzte Expertenkommission in Genf leistet bereits Ermittlungsarbeit und sichert – auch für nationale Gerichte – Beweise für Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien.

Wo KlägerInnen sind, werden auch RichterInnen sein

Druck zur Errichtung des „Ad- hoc-Strafgerichtshofes“ könnte dadurch ausgeübt werden, daß in der Bundesrepublik Anzeige wegen der Kriegsverbrechen erstattet werden und die Staatsanwaltschaft zur Einleitung von Ermittlungsverfahren gezwungen wird. Zwar kann die Staatsanwaltschaft aus Gründen der politischen Opportunität von der Verfolgung von Auslandsstaaten absehen. Die Rotkreuzabkommen zählen jedoch zu den wenigen völkerrechtlichen Verträgen, in denen das sogenannte „Weltrechtsprinzip“ statuiert ist, das die Vertragsstaaten ohne Rücksicht auf den Ort des Verbrechens und auf das Recht am Tatort und auch unabhängig von der Nationalität des Opfers und des Täters berechtigt und verpflichtet, Personen, denen Verstöße gegen einen solchen Vertrag vorgeworfen werden, zu verfolgen. Es ist daher davon auszugehen, daß das Opportunitätsprinzip nicht gilt, weil die Rotkreuzabkommen völkerrechtliche Vereinbarungen sind, die die Verpflichtung begründen, Verstöße wie Inlandsstaaten zu behandeln und dann zu verfolgen, wenn „zureichende Anhaltspunkte vorliegen“. Da Deutschland aus historischen Gründen nicht daran interessiert sein kann, die Kriegsverbrecherprozesse durchzuführen, dürfte es durch solche Ermittlungsverfahren veranlaßt werden, sich intensiv um die Errichtung eines „Ad-hoc- Strafgerichts“ zu bemühen. Ebenso könnte in anderen Vertragsstaaten die Staatsanwaltschaft zur Einleitung von Ermittlungsverfahren veranlaßt werden. Es müßte hierdurch zumindest erreicht werden können, daß die KSZE-Staatengemeinschaft sich auf einen Staat, beispielsweise Schweden, verständigt, der die Kriegsverbrecherprozesse durchführen soll, um dann an diesen Staat die Ermittlungsverfahren abzugeben. Das beauftragte Strafgericht wäre zwar nach wie vor ein nationales, jedoch international mandatiertes Strafgericht.

Handlungsräume durch die Beendigung des Schweigens

So manche, die eine militärische Intervention fordern, um den verbrecherisch kämpfenden Serben das Handwerk zu legen, sind ignorant gegenüber den Erfahrungen, die gerade die Zeitgeschichte bietet, und gegenüber der Konfliktlage. Die Geschichte des Niedergangs der DDR handelt zum Beispiel nicht zuletzt vom Nutzen, den es hat, die Dinge beim Namen zu nennen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und nicht durch Schweigen zu tolerieren. Auch die internationale Anprangerung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und die Forderungen nach Sanktionen für die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen hat Wirkungen gezeitigt. Seit die Verfolgung der Vergewaltiger und derjenigen, die die Vergewaltigungen begingen, anordneten oder zuließen, vehement gefordert wird, werden Hilfen finanziert und Serbien durch die Ermittlungsergebnisse der internationalen Untersuchungskommissionen unter Druck gesetzt, die Unterkünfte, in denen Frauen vergewaltigt werden, aufzulösen. Vielleicht wenden Serben inzwischen deshalb bei den von ihnen fortgesetzten Vertreibungen zum Zwecke der ethnischen Säuberung im Süden von Bosnien-Herzegowina „verfeinerte“ Methoden an. Es gebe keine Berichte mehr über Gewalttaten, Todesfälle oder Verletzte, teilte der Sprecher des UN- Hochkommissariats für Flüchtlinge Anfang Februar 1993 mit. Für die Opfer kommt die Ahndung der Verbrechen zwar immer zu spät. Die genannten Auswirkungen bedeuten jedoch, daß die nachdrückliche Ankündigung, die Kriegsverbrecher vor einem internationalen Strafgericht zur Rechenschaft zu ziehen, durchaus von präventivem Nutzen und geeignet sein kann, die Frauen in den serbisch besetzten Gebieten Bosnien- Herzegowinas vor weiteren Vergewaltigungen zu bewahren. Um zu verhindern, daß im ehemaligen Jugoslawien weiterhin Kinder, Frauen und Männer gefoltert, gemordet und vergewaltigt werden, ist die „Zivilisierung“ der fortdauernden Auseinandersetzungen zum Schutz der Zivilbevölkerung unerläßlich.

Verbrecherische Kriegführung und Kriegsursachen

Wer aus humanitären Gründen für eine militärische Intervention plädiert, verfehlt die Realität der verworrenen Konfliktlage im ehemaligen Jugoslawien. Um die Sinnhaftigkeit und die Chancen von nichtmilitärischer Einmischung – zu der das fact-finding zu Menschenrechtsverletzungen und die Vorbereitung von Prozessen gegen die Verantwortlichen ebenso zählen wie weitere Verhandlungen, Embargos, aber auch die Inaussichtstellung von Wiederaufbaugeldern – einschätzen zu können, muß man sich die dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien zugrunde liegende Konfliktlage vergegenwärtigen.

Während die Serben, die etwa zwei Drittel der Staatsbeamten stellten, nach Titos Tod 1980 versuchten, Jugoslawien zu dominieren, sind sie binnenwirtschaftlich mit umgekehrten Disparitäten konfrontiert: Kroatien und Slowenien haben das höchste Pro-Kopf- Einkommen von allen Republiken, zum Süden hin werden die Regionen immer ärmer. Gleichzeitig fühlte sich der reichere Norden durch die hohe Steuerbelastung gegenüber Serbien und den anderen Republiken benachteiligt. Die seit den 80er Jahren bestehende ökonomische Krise mit einer gigantischen Inflation und der Vertrauensverlust in das politische System schlugen sich in einer apokalyptischen Stimmung nieder. Die Republiken trachteten sowenig wie möglich miteinander zu tun zu haben. Der ökonomische Nationalismus mündete in den politischen Nationalismus. Durch die Anerkennung Kroatiens wurden 600.000 Serben und 500.000 Menschen anderer Abstammung des insgesamt 4,7 Millionen Einwohner zählenden Kroatiens zu Ausländern, ohne Wahlrecht und Arbeitserlaubnis. Auch im insgesamt 4,3 Millionen Einwohner zählenden Bosnien-Herzegowina gerieten infolge der Unabhängigkeitserklärung 1,5 Millionen Serben (30 Prozent der Bevölkerung) in die Minderheitsposition. Ebenso, wie Kroatien nicht bereit war, den Serben autonome Organisationen oder Minderheitenrechte zuzugestehen, lehnte der muslimanische Präsident Bosniens, Izetbegović, ab, den Serben in serbischen Enklaven kulturelle Autonomie und Minderheitenschutz einzuräumen. Die serbische Minderheit boykottierte daher die Abstimmung über die Unabhängigkeit.

Angesichts der realen Flickenteppich-Siedlungsstruktur in Bosnien-Herzegowina sind an Ethnien orientierte Grenzziehungen nur begrenzt möglich. Stets verbleiben Minderheiten anderer Volksgruppen. Der Vance-Owen-Friedensplan, der die Aufteilung Bosnien- Herzegowinas in zehn muslimanisch, kroatisch oder serbisch dominierte Kantone vorsieht, ist daher eine realitätstüchtige Zwischenstufe zu entweder weiterer freiwilliger Entmischung der Volksgruppen oder zu einer neuen Kooperation derselben – Entwicklungen, die Zeit und Geduld benötigen.

Vor diesem Hintergrund des Krieges in Jugoslawien wird die Bedeutung der fundamentalen Regel des humanitären Kriegsvölkerrechts erhellt. Die Möglichkeiten, die das humanitäre Völkerrecht vorsieht, helfend einzugreifen, etwa durch die Inspektion und Auflösung der Internierungslager oder zumindest deren Unterstellung unter internationale Kontrolle, werden durch militärische Interventionen aufs Spiel gesetzt, die das Konfliktknäuel, das in der Regel Kriegen zugrunde liegt, nur weiter verwirren.

Zum Schutz der Frauen, Männer und Kinder in Bosnien-Herzegowina vor weiteren Vergewaltigungen, Folter und Mord kommt es darauf an, zu deeskalieren, indem von allen gleichermaßen der Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte eingefordert wird; ferner indem Vertreibungen und Enteignungen nicht anerkannt, sondern Ansprüche auf Rückgabe oder Entschädigung vereinbart werden – um der Zukunftssicherung der Flüchtlinge willen und um der apokalyptischen Stimmung, dem Nährboden für Nationalismus, entgegenzuwirken; und schließlich indem die Entpersönlichung der Soldaten und Milizionäre als Teil des militärischen Apparates nicht akzeptiert und Kriegsverbrechen nicht toleriert, sondern die einzelnen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Helga Wullweber ist Rechtsanwältin und Vorstandsmitglied im Republikanischen Anwaltsverein. Überarbeitete Fassung aus: Alexandra Stiegelmeyer (Hg.): „Massenvergewaltigung. Der Krieg gegen die Frauen“. Kore Verlag, Freiburg, erscheint im März 1993, 30 Mark