: Brav unter Schipenkos Geißel
■ Schipenkos „Komikaze“ an der Volksbühne
Ob die Zuschauer die Theatergeißel ertragen würden, war sicherlich die Hauptfrage dieses Abends. Sie ertrugen sie, kulturbewußt und mit der Kamikaze-Fassung, die der „Komikaze“ (Kurt Naumann) vorführte, ein finaler Sturzkampfflieger, der aus den Trümmern und seinem Ruhm als Lebender zurückkehrt. Den Befehlshabern wird er zum Problem: dem Chef der Flugstaffel (Jürgen Rothert) und dem Feldherrn und Landesherrscher Zanzani (Horst Westphal). Der Versuch Zanzanis, das Stehaufmännchen Komikaze als Festmahl zu verspeisen, scheitert. Der Kaiser schmatzt in den Eingeweiden Komikazes, kann sich aber vor Menge nicht hindurchfressen, und die herbeigeeilte eitle Gottgestalt Augaugi (Joachim Tomaschewsky) fällt eh in Ohnmacht vor dem angerichteten Menschenfleisch. Klar, Komikaze, das ist das Volk, die Menschheit.
Was Schipenko nun aus den Ideologien der Welt, die immer die Menschen verlockt hatten, sich zu opfern, und die ihnen so zur Geißel wurden, kolportiert hatte, konnte nicht ernsthaft interessieren. Hatte sich der Autor doch höchstens zum Spaß der Umrisse bedient, die jeder erkennt. Horst Westphal in einer berühmten Lenin-Pose, eine aufschäumende Durchhalterede zelebrierend, hatte nichts zu sagen, sagte blablabla.
Das war noch zu früh und zu kurz, um das Publikum durch Ermüdung niederzumachen. Der Autor, der selbst inszenierte, holte aus den Darstellern nur selten ein nichtiges ideologisches Gerede heraus, das zugleich die Zuschauer wirklich angriff. Anderes, Einfacheres wurde deutlicher und wirksamer, wie das Hersagen der fünfzig Urväter des Stammes Israel oder Komikaze, der sich die Wasserpfeife anzündete, Tee trank und Schauspiel überhaupt streckenweise aufhörte. Das Publikum folgte trotzdem und starrte überangestrengt in die Leere.
Unterhaltsam und komisch die introvertierten, leisen Rollen: der Komikaze mit dem entsagenden Heldenton der sozialistischen Leistungsgesellschaft, der bombastische Unterweltritter als senilsanfter, freundlicher Gott, schließlich der Schauspieler (Herbert Sand), ein Zyniker, der vor allem seine Muße und Zartsinnigkeit pflegt.
Für das Hängen von 33 motivgleichen Fotos zum Gedenken an die Heldentaten des Komikaze, der von seinem letzten Kamikazeflug nicht zurückkehrte, brauchte Herbert Sand – ohne eine irgend interessante Gestik – etwa dreißig Sekunden pro Bild. Dabei mußte das eine oder andere noch sorgfältig nachplaziert werden.
Daß es hier um eine Zuschauertortur ging, mußte klar sein. Als ich mir eine Pause gönnte und mit einem Glas Sprudel vom Roten Salon zurückkam, empfing mich eine erstarrte, erschlagene Zuschauermenge, die qualvoll bei dem dreißigsten Bild auf den unbequemen Stühlen in der verbrauchten Luft des kleinen Raumes döste und meinen Wiedereintritt zu Heiterkeit nutzte. Ein Kritiker, der leider neben mir saß, schnaubte wie ein Stier: „Wir sind hier nicht auf einer Vernissage.“ Mit solchen Zuschauern, und es waren ein Dutzend KritikerInnen darunter, kann man nicht ins Theater gehen.
Am Ende dann brav Beifall. Das Publikum hatte die reichlich zwei unterhaltsamen Stunden mit langen Tortur-Strecken überlebt – dank der unendlichen Leidensfähigkeit von Kulturbewußten – und war erfreut, ebendies unter Beweis gestellt haben zu dürfen. Berthold Rünger
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