Gockelfolter! Von Michaela Schießl

In Wahrheit liebte Didi K. die Wälder und Felder, die Leute, das Land und die Tiere, und nie hätte er gedacht, daß ihn irgend etwas von dem kleinen Ort im Süden Deutschlands wegbringen könnte, wo der Dialekt so breit ist wie die Leute gemütlich. Denn dort war er der König des Dorfes, Herrscher über das Szene-Café, Hirte bei Seefesten und Hüter des Lagerfeuers. Er kannte jeden Eingeborenen, und jeder Eingeborene kannte ihn. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms durfte er die „Brezel“ tragen, was zu den ehrenvollsten Aufgaben im Dorf gehört. Der Brezelträger nämlich führt, umjubelt von der Bevölkerung, den Erntedankumzug an. Kein Trend kam ins Dorf, der nicht von Didi. K. gesettet wurde, keine Aktion war zu albern, als daß sich jemand zu lachen traute. So verzog Henry L. keine Miene, als er den Dorfchef nachts um drei auf der Straße traf, just als dieser seine Freundin nach Hause karrte – im Leiterwagen und mit vollem Bettzeug. Als wäre es das Normalste der Welt, lehnte sich Henry L. aus seinem roten Alpha- Romeo-Cabrio und fing zu plaudern an. „Hey, Didi, was machst du denn?“ „Ich fahr' meine Freundin nach Hause.“ „Ach so.“ Didi, man ahnt es, war rundum glücklich. Wenn es da nur nicht das eine furchtbare Wesen gegeben hätte: den Gockel des Nachbarn. Das Tier lehrte den Dorfchef jeden Morgen das Morgengrauen. Doch es war nicht nur das, was Didi K. so störte. Vielmehr irritierte ihn das, was der Gockel repräsentierte. Der Hahn auf dem Misthaufen, soll das die Welt sein? Ist das nicht ein Symbol für tiefste Provinz? Und er mithin der Käs vom Kaff, der Chef der Langeweile? Der Hahn indes kümmerte sich nicht um die Seelennöte seines Nachbarn, er krähte weiter. So lange, bis Didi. K. wußte: Sein Leben muß sich ändern. Der Hahn muß raus aus seinem Leben. Schweren Herzens packte er seinen Beutel, trank ein letztes Mal den Freunden zu und verließ die Heimat. Eine Großstadt sollte her, mit Nachtleben, Sub, Kunst und Kultur. Eine Stadt eben, wo sich kein Hahn wohlfühlen könnte: Hamburg. Dumm nur, daß sich auch der Dorfchef anfangs nicht so recht wohlfühlte in seiner Rolle als Fremder mit dem unverständlichen Dialekt. Die Aktion „König der Stadt“ lief an. Jahrelang zog er fortan durch Kneipen und Diskotheken, studierte Land und Leute, lernte Hochdeutsch, profilierte sich als Honk-Spezialist und traf Leute, Leute, Leute. Ungezählt die Biere, die ihn dieser Kraftakt kostete. Doch nun, Jahre später, begrüßt man ihn in den einschlägigen Schuppen mit Namen. Er hatte es geschafft: Der Hahn in ihm hatte endgültig ausgekräht. Er ist Großstädter, vogelfrei. Ein Triumph, den Didi K. mit einem Umzug in einen neuen Stadtteil feierte. Doch dort glaubte er, seinen Ohren nicht zu trauen. Morgens um sieben schreckte ihn ein furchtbarer Schrei aus den Federn. Er wollte es nicht glauben. Dort draußen, mitten in Altona, krähte ein Hahn. Didi K. stürzte ans Fenster und sah das Unglaubliche. Ein Gockel in Großstadtausführung: der Wagen des Eiermanns, ausgerüstet mit einer Lautsprecheranlage, aus der ein Hahn vom Band schrie. Blechern und höhnisch, als wollte er krähen: Mich wirst du nie los.