Fähigkeit zur Selbstkritik fehlt-betr.: "Kinkel dreht - durch", taz vom 12.2.93, "Wir leben in Absurdistan", Leserbrief von Klaus Kinkel, taz vom 15.2.93

Betr.: „Kinkel dreht – durch“, taz vom 12.2.93, „Wir leben in Absurdistan“, Leserbrief von Klaus Kinkel, taz vom 15.2.93

Lieber Herr Kinkel, Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen darüber zu machen, daß irgend jemand auf den irrigen Gedanken kommt, die Anzeige, die Drum in einigen Zeitungen geschaltet hat, sei von Ihnen oder Herrn Rühe in irgendeiner Weise gesponsert! Denn um eine Anzeige mit derartigem Inhalt zu schalten, fehlt Ihnen eine Eigenschaft, die auch den übrigen Mitgliedern des Kabinetts völlig abgeht: die Fähigkeit zur Selbstkritik. [...] Helmut Gerlach, Göttingen

[...] Es ist nicht gerade das erste Mal und es wird auch nicht das letzte Mal sein, daß PolitikerInnen über ihren öffentlich benutzten Namen stolpern (sic). Das wirklich Interessante daran ist natürlich die Art und Weise, wie sie darauf reagieren. Sehr viele Möglichkeiten haben sie dabei nicht: Entweder handeln sie politisch korrekt oder unkorrekt.

Korrekt ist es, im Fall nachgewiesener Vettern- und/oder Günstlingsdienste den Hut zu nehmen. Das hat etwas mit politischer Kultur zu tun und dient der Kontrollfunktion der Medien als Legitimationselement. Das zu akzeptieren, gehört ebenfalls zur politischen Korrektheit. Wirklich absurd dagegen ist es, etwa bei einem scherzhaften Gebrauch seines (öffentlichen) Namens, sei es zum reinen Spott, wie zuweilen in der Titanic oder zur Unterstützung von Werbung, wie etwa im Fall des Spiegel geschehen, sogleich auf alle möglichen Palmen zu steigen. Diese Absurdität wird dann zur politischen Unkorrektheit, wenn der so empfindlich gestörte, zum Teil völlig überzogene juristische Maßnahmen einleitet und sich zusätzlich in aller Öffentlichkeit über die Kritik an solcher Querulantigkeit beschwert. Vielleicht, so kann man meinen, läßt eine solche Reaktion auf persönliche Probleme des zur Debatte stehenden Menschen schließen. Das würde die Affektiertheit erklären.

Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Durch solche Aktionen soll versucht werden, den Politikern hintenrum wieder eine Größe zu verleihen, die sie aus eigenem Verschulden im Zuge der Parteienverdrossenheit unlängst verloren haben. Sich selbst indirekt heiligsprechen und potentielle Nachahmer zu verschrecken, ist eine wichtige Maßnahme zensorischer Unterjochung der freien Meinung über Machthaber. Das klingt nicht übertrieben, wenn man sich einmal vor Augen führt, was Klaus Kinkel offensichtlich für „normale Zeiten“ hält: wohl Zustände, in denen PolitikerInnen unkontrolliert tun und lassen können, was ihnen gefällt, ohne den erhobenen Zeigefinger der öffentlichen Medien, denen Kinkel in seinem Leserbrief auch noch den schwarzen Peter zuschieben möchte. Winfried Redeke, Karlsruhe