Staatliche Versorgung oder Krankenkassen?

■ Für welches Gesundheitssystem entscheiden sich die Länder Osteuropas?

„Es wird wohl beschlossen werden müssen, daß manche Krankheit, manches Leiden überhaupt nicht mehr abgedeckt werden können, daß das Leben selbst in manchen Fällen keinem Schutz mehr unterliegt. An diesem Punkt wird eine gewisse Rationalität zum Skandal“, sagte der Philosoph Michel Foucault kurz vor seinem Tod. Das war vor neun Jahren. Der Skandal ist bislang nicht eingetreten, doch wenn man die Katastrophenmeldungen aus den Ländern Westeuropas sammelt, wird klar, daß das Gesundheitssystem überall dringend reformbedürftig ist. An der jeweiligen Organisation wird jedoch kaum ernsthaft gerüttelt, radikale Veränderungen, die politisch schwer durchzusetzen wären, werden gescheut.

Ursache der Krise sind einerseits die explodierenden Gesundheitskosten, andererseits die sinkenden Einnahmen der Sozialversicherungen. Die osteuropäischen Länder hingegen stehen nach den politischen Umbrüchen der letzten Jahre jetzt auch vor einer völligen Neuorganisation ihrer Gesundheitssysteme. Dabei werden sie zwischen den beiden in Westeuropa vorherrschenden Modellen wählen: dem Beveridge-System und dem Bismarckschen System.

Ersteres, benannt nach dem englischen Sozialreformer Beveridge, wird die nationale Gesundheitsversorgung aus Steuermitteln finanziert. Das Parlament legt jährlich ein Budget für Gesundheit fest und kontrolliert die Mittelverteilung. Die Ärzte erhalten ein festes Gehalt oder eine Pro-Kopf- Pauschale, den Krankenhäusern wird ein Globalbudget oder ein Netto-Ausgabenrahmen zugewiesen. Für dieses Modell haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg alle nordeuropäischen Länder entschieden. Wegen seiner Vorteile – kein Leistungsausschluß, Ausgabenkontrolle, freier Zugang und Chancengleichheit – haben die südeuropäischen Länder in den 80er Jahren ebenfalls dieses Modell gewählt.

Das Bismarcksche System hingegen beruht auf der deutschen Sozialgesetzgebung von 1883. Dabei müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Pflichtbeiträge an eine gesetzliche Krankenkasse zahlen, die von Vertretern der Versicherten verwaltet wird. Diese Kassen schließen Verträge mit den Krankenhäusern und „selbständig niedergelassenen Ärzten“ ab. Die Ärzte rechnen ihre einzelnen Leistungen mit den Krankenkassen ab. Die Idee, die dahintersteckt: Wenn die Bürger ihre Krankenkasse frei wählen können, müssen diese Anreize schaffen und somit effizient arbeiten. Für benachteiligte Gruppen wie Arbeitslose, nicht erwerbstätige Frauen oder Studenten, die keinen Zugang zu diesen Betriebskrankenkassen haben, müssen allerdings andere Lösungen gefunden werden: Sie werden über Steuermittel versichert. Für dieses System der Krankenversicherung haben sich neben Deutschland auch Frankreich, Belgien, Österreich und die Niederlande entschieden.

Es kann jedoch leicht aus dem Tritt kommen: So ist beispielsweise bei den landwirtschaftlichen Kassen in Frankreich das Gleichgewicht seit rund 20 Jahren gestört, weil sich die Zahl der Beitragsleistenden verringert hat, während die Anspruchsberechtigten zugenommen haben; die anderen Kassen wurden hier zu „demographischen Ausgleichszahlungen“ gezwungen.

In allen Ländern müssen die Patienten einen Teil der Kosten selber tragen. Die Sätze der Steuern oder Beiträge sind von Land zu Land verschieden, doch die EG strebt hier eine Annäherung an. In einer Empfehlung sprach sich der Ministerrat im Juli 1992 auch dafür aus, gemeinsame Ziele im Bereich der Sozialversicherung zu definieren. Im Protokoll über die Sozialpolitik im Maastrichter Vertrag ist jedoch festgelegt, daß Beschlüsse in diesem Bereich nur einstimmig gefaßt werden können. Eine Vereinheitlichung der Gesundheitssysteme ist wegen ihrer Unterschiedlichkeit „und ihrer Verankerung in der jeweiligen nationalen Kultur“ gar nicht im Sinne der EG – hier gilt das berühmte Subsidiaritätsprinzip. Bettina Kaps