Mit dem heute beginnenden Kanzlerbesuch in Tokio suchen Japan und Deutschland behutsam nach einer Erneuerung ihrer Beziehungen, die unter anderem im Zuge der deutschen Wirt- schaftskrise unter Druck geraten sind. Aus Tokio Georg Blume

Miyazawa und Kohl nehmen Abschied von der Achse

Die Bescheidenheit des Ortes paßt zu dem Mann im blaugrauen Allerweltsanzug. Den Eingang hatten rosa Blumen in billigen Plastiktöpfen verziert, zwischen den Schritten quietschte der Polyester- Teppich. Nur ein kleines Bonsai- Bäumchen, lieblos auf einen Treppenpfosten gestellt, strahlte etwas von der Würde aus, die man in der Residenz des japanischen Premierministers erwarten könnte.

So aber durften die sechs deutschen Korrespondenten, die Kiichi Miyazawa vor dem Besuch des deutschen Bundeskanzlers zum Gespräch geladen hatte, auf den gleichen harten Polsterstühlen wie der Regierungschef Platz nehmen. Die einst den Preußen abgeschaute Prunklosigkeit im Regierungsstil bleibt eben ein japanisches Markenzeichen. Sie entspricht der Art des Premierministers, der nicht wie üblich als Provinzfürst, sondern als Diplomat und Finanzbeamter seine Karriere in Tokio vorbereitete.

Die förmliche Begegnung zwischen Japans Nummer eins und der Auslandspresse verspricht auf Anhieb keine Überraschungen. Aber sie signalisiert die Sorge der japanischen Regierung um das nationale Image im fernen Deutschland. Feinfühlig registrieren die Japaner, wie sich im Zuge der deutschen Wirtschaftskrise die Stimmung gegenüber ihren Produkten wandelt. Dabei war das deutsch-japanische Verhältnis bislang frei von jeder Sorge, was besonders innerhalb der oft komplizierten Beziehungen zwischen Japan und dem Westen etwas heißen will.

„Deutschland lag immer vor Japan. Ich habe immer sehr viel von Deutschland gelernt.“ Wie Tausende seiner Landsleute, die mit Begeisterung Mozart und Beethoven einüben, definiert Miyazawa sein Verhältnis zu Deutschland über eine Bewunderung, die in der Vergangenheit wurzelt.

Kohl drängt auf Annäherung zwischen Tokio und Moskau

Das kann man ihm schon deshalb abnehmen, weil die politischen Beziehungen zwischen Japan und Deutschland während des Kalten Krieges von völlig untergeordneter Bedeutung waren. Nicht Brandt und Kohl gelangten in Japan zu Ruhm, sondern die Scorpions und die Violonistin Anne Sophie-Mutter. Umgekehrt studierten die Deutschen Zen und Ikebana, statt sich die Namen der japanischen Premierminister zu merken.

Nur selten wurde diese Ungezwungenheit von der Erinnerung an die gemeinsame Schuld im Zweiten Weltkrieg überlagert. Miyazawa, der in Japan als Pazifist gilt, ist deshalb mit Sicherheit der letzte japanische Regierungschef, der an den Zweiten Weltkrieg erinnert, wenn er über die heutigen Gemeinsamkeiten zwischen Japanern und Deutschen nachdenkt: „Aufgrund der Vergangenheit verfügt Japan über seine Friedensverfassung und Deutschland über das Grundgesetz. Beide Länder sollten Einigkeit darüber erlangen, auf dieser Basis zusammen für den Weltfrieden zu arbeiten.“

Miyazawa spricht damit gegen die Verfassungreformer in beiden Ländern, die vor allem im größeren militärischen Engagement die neue Herausforderung für Deutsche und Japaner erkennen. In seiner Partei, den seit 1955 regierenden Liberaldemokraten, steht er damit freilich ziemlich allein da.

Doch der Premierminister kann heute schon Entscheidungen festklopfen, die zumindest in Japan den Reformern den Wind aus den Segeln nehmen: „Für Deutsche und Japaner gibt es keine gemeinsame Strategie, um im Weltsicherheitsrat der UNO einen ständigen Sitz zu bekommen“, sagt Miyazawa rechtzeitig vor dem deutsch- japanischen Gipfeltreffen. Damit der Verdacht erst gar nicht aufkommt, daß sich die zweit- und drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt gemeinsam auf die Hinterbeine stellen, um ihre neue politsche Geltung einzuklagen.

Der Bundeskanzler kann damit freilich nicht ganz glücklich sein. Bisher hatten die Deutschen davon profitiert, daß die Japaner immer vehementer auf den lange erträumten Sitz bei den Vereinten Nationen in New York drängten. So konnte sich Bonn problemlos in den Windschatten Tokios stellen — nach dem Motto: wenn schon die, dann wir auch. Das ist jetzt nicht mehr so leicht. Vielleicht meint es der Bundeskanzler ja inzwischen ernst, wenn er den Japanern zugesteht: „Aus japanischer Sicht ist es sehr viel eiliger und bedeutender, Mitglied des Weltsicherheitsrates zu sein.“

An einem anderen Punkt aber sind Tokio und Bonn bisher kein Stück weitergekommen: „Wenn die GUS-Staaten nicht Stabilität gewinnen“, warnt Helmut Kohl, „werden wir Deutsche die Zeche bezahlen, und die Japaner sind dann genauso betroffen wie wir.“ Von dieser Dringlichkeit versteht Kiichi Miyazawa gar nichts. Japan und Rußland streiten sich bereits seit 1945 um die Kurilen, vier Fischerinseln im Norden Hokkaidos. Daran scheitert auch die Unterzeichnung eines Friedensvertrages zwischen Tokio und Moskau.

Ein größeres Problem aber hat auch Miyazawa nicht im Sinn, wenn er an die Zukunft Rußlands denkt: „Der Rest der Welt muß wissen, daß es zwischen den beiden Ländern keinen Friedensvertrag gibt. Das ist ein unnormaler Zustand.“ Deshalb bereitet es dem Premierminister auch immer noch Schwierigkeiten, den russischen Präsidenten Boris Jelzin zum Weltwirtschaftsgipfel im Juli in Tokio einzuladen. Für Kohl hängen derweil Erfolg und Mißerfolg der Gespräche mit Miyazawa davon ab, ob es ihm gelingt, den Gastgebern ihre Bedenken gegenüber Jelzin auszureden. Doch nicht immer erweisen sich die Japaner den Deutschen gegenüber so gelehrig wie in der Welt der Musik.