Auf dem Markt der Empörung

Bühne frei für eine Geschichte von Wunsch- und Abziehbildern: Zum Streit zwischen dem „Jakob van Hoddis-Theater“ und dem Künstlerklub „Die Möwe“ um das Stück „Ich, Susanne Salomon“. Berlin, im Jahre 4 n.d.W.  ■ Von Stephan Schurr

Eine nützliche Erfindung ist sie – die Sicherheitsnadel. Rasch und mühelos läßt sich mit ihr beispielsweise ein Judenstern am Mantel befestigen (und wieder entfernen). Wie das vor sich geht, konnten kürzlich einige Passanten in der Luisenstraße nahe des Reichstags beobachten. Bei Eiseskälte waren dort, vor dem Künstlerklub „Die Möwe“, kurz nach 20 Uhr die Mitglieder des Jakob van Hoddis-Theaters zusammengekommen, um gegen das „Auftrittsverbot für das antirassistische Stück ,Ich, Susanne Salomon‘“ – so der Betreff des an die zwanzig Demonstranten ausgeteilten „Offenen Protestbriefs“ – zu demonstrieren.

„Auftrittsverbot, Hausverbot, Mundtot“ stand auf den Transparenten, die sich der Regisseur und Leiter des Theaters Anton Dick- Boldes und zwei weitere Ensemblemitglieder umgehängt hatten. Sprechen konnten sie nicht, denn ihr Mund war mit Heftpflaster zugeklebt. Die Judensterne leuchteten im Licht der Straßenlaternen, man fror für den Protest. Nach knapp einer Stunde war der Spuk vorüber, der letzte Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen der Theatergruppe und der „Möwe“.

„Auftrittsverbot“ – das Wort läßt einen handfesten Skandal vermuten. Eifrige Betroffenheit ist gefordert – oder Skepsis: Womöglich äußert sich hier ein besonders lautes Organ auf dem Markt der Empörung? Bleiben wir zunächst unbetroffen und taub. Die Vorgeschichte: Irgendwann im Sommer letzten Jahres wurden die zarten Bande zwischen dem von Dick- Boldes 1991 gegründeten Jan- Hoddis-Theater und der Möwe- Geschäftsführung geknüpft. Eigentlich sollte aus ihnen ein Seil werden, eine längere Zusammenarbeit wurde geplant, eine „Kooperationsvereinbarung“ für die erste Produktion, die Uraufführung eines Ein-Personen-Stückes, getroffen. Die Zuständigkeiten: Technik und Organisation bei der Möwe, die „Kunst“ (wie anders?) beim Regisseur.

Im September beginnen die Proben für das Stück, das ein ganz besonderes ist: nach einem Jahr Vorarbeit soll der Monolog einer jungen deutschen Jüdin, die ihre Rolle als „Opfer“ nicht annehmen und nicht mehr in Deutschland leben will und kann, während der Proben „entwickelt“ werden. Ein Experiment also mit den gängigen und zu lobenden Attributen: engagiert, antirassistisch, aufrüttelnd, verstörend, schmutzig im Sinne Artauds. Möwe-Geschäftsführer Michael Fischer unterstützt das Projekt, die Probenbedingungen sind optimal, Techniker und Inspizienz des Hauses stehen zur Verfügung. Eine „Monopolstellung“ habe das Jakob van Hoddis-Theater gehabt, erinnert sich Fischer später.

Die Stiftung Kulturfonds gibt einen Zuschuß. Am 14. November wird „Ich, Susanne Salomon“ uraufgeführt. Den Äußerungen des Regisseurs nach, hat es Beifallsstürme gegeben, Einladungen zu Gastspielen wurden ausgesprochen, ein „großer künstlerischer Erfolg“ (Dick-Boldes) war zu feiern. Nur leider wurde er von der Theaterkritik kaum wahrgenommen – was bei der nächsten Inszenierung des Jakob van Hoddis- Theaters anders sein dürfte. Weitere Aufführungen folgen. Am 9. Dezember bedanken sich Anton Dick-Boldes und die 23jährige Hauptdarstellerin Vera Wegerer in einem Brief an Fischer für dessen „politisches Engagement, Einfühlungsvermögen in die Besonderheiten künstlerischer Prozesse und Beharrlichkeit bei der Absicherung der materiell-technischen Rahmenbedingungen des gesamten Arbeitsprozesses“ und drücken ihm kurz vor den herzlichen Grüßen „fest und kameradschaftlich die Hand“. Zum letzten Mal. Einen Tag später schon kommt es zum Eklat, es ist der Anfangspunkt einer gehegten und gepflegten Eskalation, deren Ende noch immer nicht abzusehen ist.

Der Anlaß: Zwei Aufführungstermine des Stückes im Januar werden von Fischer abgesagt. Seine Begründung: Die Techniker seien überlastet – verständlich, denn vor jeder Aufführung der „Ich, Susanne Salomon“ ist das Parkett, mit 75 schweren Sesseln bestuhlt, leerzuräumen – andere Theatergruppen hätten auch mal das Recht aufzutreten und so weiter.

Vera Wegerer und der Regisseur wenden sich daher nach einer Vorstellung zwei Tage später an das Publikum, das sich sofort mit dem Hoddis-Theater solidarisiert. Vom Rassismus, vom Antisemitismus in Deutschland ist die Rede, ein Stück mit diesem Thema dürfe nicht einfach vom Spielplan verschwinden! Die Vorwürfe gegen die Möwe und den Rest der Welt werden mit der Drohung garniert, die internationale Presse über den Vorgang zu informieren. Am selben Abend noch macht Dick-Boldes seinem Unmut in der Klub-Bar Luft. Seine Idee, das Haus zu besetzen und eine kommunistische Theaterrepublik zu gründen, ist wohl kaum ernst gemeint, ihre Wirkung verfehlt sie jedoch nicht. Der Skandal ist geboren, das Hickhack nimmt seinen Lauf.

Zunächst werden von Fischer „rechtliche Schritte eingeleitet“. Dick-Boldes erhält Hausverbot und setzt sich an die Schreibmaschine. Seine „Listen der Diskriminierungen“ flattern fortan auch in die taz-Redaktion, zunächst sind es zwei Seiten, später dann acht. Inzwischen ist das von ihm vorgelegte Material ein stattliches Konvolut, das man der leichteren Benutzung wegen am liebsten zum Buchbinder tragen möchte. Nach der ermüdenden Lektüre kommt man zu dem Schluß, daß der oben zitierte Dankesbrief im Zustand geistiger Verwirrung geschrieben worden sein muß. Denn die Möwe ist nach Dick-Boldes' Auffassung schon immer gegen das Stück mit seiner „experimentellen Ästhetik“ gewesen, die Proben wurden gestört, der Werbe-Aufsteller am Abend der Vorstellung vom 12. Dezember nicht auf dem Gehweg vor dem Theater aufgestellt und so weiter.

Zu allem Übel „bedrängte“ der Leiter der Möwe-Projektgruppe Musik „die Darstellerin der Susanne Salomon des antirassistischen Stückes ICH, SUSANNE SALOMON, Frau V. Wegerer“ am 12. Dezember auf dem Weg in den Theatersaal „tätlich“ – ein „rechtswidriger Übergriff“ (Zitate und Großschreibung nach Punkt 21 der Liste, Seite 7), der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Fischer hierzu: „Die Tatwaffe war ein Staubsauger, unser Mitarbeiter putzte grade“.

Kurz vor Weihnachten bemühte sich die alarmierte „Antirassistische Initiative“ um den Fall, solidarisierte sich mit den Künstlern, verurteilte das „faktische Auftrittsverbot“ mit markigen Worten und verschickte einen wiederum „Offenen Protestbrief“, unter anderen auch an Ignatz Bubis. Die „Jüdische Gruppe“ hingegen, ein freier Zusammenschluß von Juden, die in Deutschland leben, sah in den Vorwürfen ihrer Mitglieder Dick-Boldes und Wegerer laut einer Presseerklärung vom 2. Februar eine an „Stasi-Methoden gemahnende Diffamierungskampagne“, in der „von zwei Schauspielern jüdische Geschichte und deutsche Schuldgefühle demagogisch ausgenützt [werden], um egoistische Interessen durchzusetzen“. Das Fazit der Gruppe: „Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß die Vorwürfe gegen Die Möwe gerechtfertigt wären. Vor allem die Unterstellung rassistischer oder antisemitischer Motive bei Mitarbeitern der Möwe empfinden wir als geradezu infam.“

Nach dieser Vorgeschichte ist es nun Zeit, hellhörig zu werden, denn irgendwann in jenen Dezembertagen muß sich Dick-Boldes auf seine Biographie (ein Lebenslauf liegt dem Konvolut bei) besonnen haben: Zu DDR-Zeiten war er mehrmals mit Berufsverbot belegt, schließlich wegen „politisch engagierter Theaterarbeit“ zur Emigration in die Bundesrepublik gezwungen worden. Richtig, auch diesmal sah er die früheren DDR- Kader am Werk. „Die Vorgänge und Mechanismen gleichen sich aufs Haar“, meint Dick-Boldes, „alte DDR-Konstellationen werden hier ausgetragen“.

Im Januar verschickt er dann eine 27seitige Dokumentation. Sie trägt den Titel „Recherchen über die leitenden Mitarbeiter des Berliner Künstlerklubs Die Möwe, die an der widerrechtlichen Absetzung des antirassistischen Theaterstückes Ich, Susanne Salomon maßgeblich beteiligt gewesen sind“ und hat den „Stand vom Januar 1993“. Als Urheber genannt wird ein „Ermittlungsbüro, das sich nach der dritten Ermittlungsphase erneut melden wolle.“ Und weiter: „Dann werden wir auch unsere Anonymität aufgeben, die wir für die Dauer der Nachforschungen noch beibehalten müssen.“ Das sensationelle Ergebnis der detektivischen „Nachforschungen“ bringt an den Tag, daß die „leitenden Mitarbeiter“ auch vor 1989 als Kulturfunktionäre tätig gewesen waren, daß Fred Fiedler, Vorstandsmitglied des Stiftungsvereins der Möwe, Rechtsanwalt ist und daß Michael Fischer mit einer Frau aus dem Vorstand in einer „festen Lebensgemeinschaft lebt“ (Beweis Dok. 26 – Kopie der entsprechenden Telefonbuchseite).

Die Enthüllungs- und Anprangerungseuphorie treibt immer prächtigere Blüten. Inzwischen ist das Anne-Frank-Haus in Amsterdam über den Stand der Dinge informiert worden. Die Senatsverwaltung ist von Dick-Boldes überdies aufgefordert worden, ihre Zuwendungen an das vorwiegend mit ABM-Mitteln finanzierte Haus zu überprüfen. Das Schiedsgericht in Hamburg wird bald das Vergnügen haben, sich mit dem Streitfall befassen zu dürfen.

Die Handlung des Stückes „Dick-Boldes oder die schlechten Menschen aus der Luisenstraße“ ist verworren. Nicht nur einmal reißt dem Zuschauer dieser Lokalposse, die viel zu traurig ist, als daß man lachen könnte, der Geduldsfaden. Selbst der Anlaß für die Handlung ist nebulös. Um eine Absetzung der „Ich, Susanne Salomon“ sei es nie gegangen, beteuert der Möwe-Vorstand, lediglich zwei von mehreren geplanten Terminen seien wegen technischer und organisatorischer Probleme abgesagt worden. Dick-Boldes hingegen sieht in der Entscheidung eine Reaktion auf die inhaltliche Brisanz des Stückes, in dem auch ein Schweinskopf von der Bühne in den Zuschauerraum geworfen wird. Für ihn ist der ganze Streit nichts anderes als eine Fortsetzung der DDR-Kulturpolitik in neuem Gewand: „Alte DDR-Konstellationen werden hier ausgetragen“. Kein Wunder, daß sich bei den verhärteten Positionen beide Seiten der „infamen Lüge“ bezichtigen.

Wer danach fragt, weshalb denn keine klärenden Gespräche geführt worden seien, fühlt sich an seine Grundschulzeit erinnert: Keiner will's gewesen sein. Aussage steht – wie so oft bei diesem Streit – gegen Aussage. Zu einem Vorwurf, das Verhalten der „leitenden Mitarbeiter“ der Möwe sei rassistisch und antisemitisch, will sich Dick-Boldes nicht hinreißen lassen. „Es hängt alles mit allem zusammen“, bemerkt er in einem Interview mit der taz. Stimmt. Wie die Sicherheitsnadel mit dem Judenstern.