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: Prime-Time-Thrill

■ "Der letzte Kick"

„Der letzte Kick“,

Donnerstag, 20.15Uhr, ARD

„Freizeit an der Schmerzgrenze“, so diagnostiziert Juliane Enders, sei „eine neue Maßeinheit, die immer mehr Menschen brauchen in Westeuropa“. Um ihre These zu belegen, hetzt sie den Zuschauer vom Stierkampf in die virtuelle Realität und zurück. – Wer zufällig gerade Ernest Hemmingways „Tod am Nachmittag“ gelesen hat und den Stierkampf immer noch ablehnt, wird zumindest skeptisch, wenn das kulturell und traditionell verwurzelte Phänomen mit modernem High-Tech der Kulturindustrie in einen Bilder-Topf geworfen wird. Doch diese Standardignoranz ist nicht der eigentliche Fehlgriff. – Verwerflicher ist das spekulative Moment, das sich bereits am privilegierten Sendeplatz zeigt. Was um 20.15Uhr auf die Zuschauer losgelassen wird, muß etwas Neues sein.

In diesem Fall das Vorführen eines Trends: „Immer mehr Menschen in Westeuropa“ stellen sich vor Stierhörner, betreiben Bungee-Springen, fahren mit Autos um die Wette, betätigen sich als S-Bahn-Surfer. Die Frage ist: Wie viele sind „immer mehr“? Denn daß sich ein Haufen Adrenalinfreaks den Kick holt, rechtfertigt nicht den Sendeplatz. Erst die nach Kräften suggerierte Gewißheit, daß beim Bäcker jeder zweite in der Warteschlange ein todesverachtender Höllenpilot ist, gibt dieser Kulturreportage den „letzten Kick“: Auf der Ebene der filmischen Darstellung wiederholt der Bericht exakt das, was er inhaltlich anprangert. Und wenn die Bilder das Gewünschte nicht vermitteln, behilft man sich mit verbaler Postproduktion: „Diese Frau kämpfte gerade in einer Hochhauswüste gegen Dinosaurier, als ihr schlecht wurde.“ – Derart geschliffenen Unsinn bekommt man ansonsten nur bei „Monthy Python's“ geboten. Auch der „Thriller-Hitchcock“ ist nicht übel. Der Duktus sauertöpfischer Empörung, der sich durch diesen Bericht zieht und in der „virtuellen Realität“ das transzendentale Feindbild erblickt, erinnert ein wenig an den Gestus der 50er Jahre, als man sich über entsittlichende Verrohung durch Nacktheit auf der Leinwand entrüstete.

In Guido Ceronettis „Das Schweigen des Körpers“, ein humorvoller Streifzug durch die Geschichte der Medizin, heißt es: „Bei den Ursachen für den Verlust eines Auges berücksichtigte die heilige Katharina nur die von außen gewaltsam einwirkenden Zeichen von Zeiten, in denen man sehr leicht von Schwert oder Feuer geblendet werden konnte“. Gilt auch fürs Bungee-Fernsehen. Manfred Riepe